"Das Verhör", Zeichnung eines deutschen Kriegsgefangenen
Am Tage der deutschen Kapitulation überquerte ich mit meiner Kompanie einem bunt gewürfelten letzten Aufgebot bei Burg die Elbe, um der sowjetischen Gefangenschaft zu entgehen. Als Anfang Juli 1945 die Russen dieses Gebiet besetzten, zog ich mit der britischen Besatzungsmacht aus demselben Grund gen Westen. Zwei Wochen später wurde ich in Schoppenstedt in die britische Zone entlassen - und überquerte die Elbe diesmal von West nach Ost um zu Hause in der SBZ nach meinen Angehörigen zu suchen.
Damit passierte genau das, was ich seit Mai vermeiden wollte. Ich wurde in Geringswalde/Sachsen verhaftet, zum englischen Spion erklärt, im Gefängnis Bautzen und im Lager Mühlberg interniert und als sowjetischer Kriegsgefangener in die Sowjetunion verschleppt. So begann meine sowjetische Gefangenschaft, die ich in allen Etappen bis 1955 auskosten durfte.
Inzwischen wissen wir aus den russischen Geheimakten , daß für diesen Neuzugang an arbeitsfähigen Kriegsgefangenen aus der SBZ die gleiche Zahl von 6000 Kranken aus Lagern in der Sowjetunion in die SBZ zurückgeschickt wurden. 1067640 deutsche Kriegsgefangene hatten die Sowjets nach westlicher Zählung bei Kriegsende 1945 in Gewahrsam. Das waren die Überlebenden von 1,7 Millionen deutscher Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren. 549360 (52%) waren bis Kriegsende in den sowjetischen Lagern verstorben. Der sowjetische Geheimdienst KGB zählte nach dem Neuzugang im Mai/Juni am 20. Juni 1945 in seinen internen Aufzeichnungen 2 Millionen Kriegsgefangene aus Deutschland und Österreich, darunter 181 Generäle und 34000 Offiziere.
Für den gesamten Zeitraum zwischen 1941 und 1956 schätzt die Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte in der Kriegsgefangenen - Dokumentation , daß 3,2 Millionen deutsche Soldaten in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten, von denen 1110000 (38%) in den Lagern verstorben seien.
Aus unseren Auswertungen in den russischen Geheimarchiven, die noch nicht beendet sind, wissen wir jedoch, daß alle Zahlen in Frage zu stellen sind. Russische Experten errechneten aufgrund ihrer Studien eine wesentlich höhere Zahl deutscher Kriegsgefangener, nämlich über 4 Millionen. Wenn sich das als zutreffend erweisen sollte, dann würde das bedeuten, daß ein Teil der 1,2 Millionen Vermißten in den Kriegsgefangenenlagern gestorben wäre. Das werden wir aber erst am Ende unserer Auswertung wissen.
Während des Krieges war das Leben in den sowjetischen Lagern , Muster-Lager ausgenommen, hart. Das zeigen die hohen Sterbe-Raten von 95% in den Jahren 1941/42 und immer noch 70% im Jahre 1943.
Auch die ersten Nachkriegsjahre brachten den Kriegsgefangenen - wie übrigens auch der russischen Zivilbevölkerung - große Entbehrungen. In dieser Etappe war das Leben für das Gros der Gefangenen trostlos. Wenn die Kolonnen vom Straßenbau am Abend ins Lager kamen, begann der zusätzliche Arbeitseinsatz für den Ausbau des Lagers. Nach der kärglichen Wassersuppe legte man sich dicht nebeneinander auf die harten Holzpritschen. Keine Decken oder etwa Bettzeug, nur die zerfransten Mäntel zum Zudecken. Umdrehen auf Kommando . Zur Verrichtung der Notdurft standen große Kübel vor den Eingängen der Baracken . Wehe wer an der Reihe war, die schweren, vollen Kübel zur Latrine, einem Donnerbalken zu tragen! Der einzige Lichtblick. Es gab doppelte Essensration bei Geburtstagen. Ich habe noch nie so viel Geburtstage erlebt wie in diesen Lagern im Herbst 1946.
Eine halbe Million deutscher Kriegsgefangener überlebten diese Etappe nicht, 500000 wurden bis 1947 repatriiert. Wer noch in Gefangenschaft geblieben war, erlebte in der dritten Etappe eine Verbesserung der Lagerbedingungen durch die Möglichkeit Geld zu verdienen. Allerdings mußten die Voraussetzungen erfüllt werden: Es wurde nach den sowjetischen Arbeitsnormen bezahlt. Vom Monatsverdienst wurden 456 Rubel für Wohnen und Essen im Lager abgezogen und dann 30% Steuern für die Arbeit übertage, 15% für Schwerstarbeit beim Kohlen-Abbau untertage. Was übrigblieb, wurde bis zu 200 Rubel ausgezahlt, im Kohlenbergwerk auch mehr. Krank durfte man nicht werden; denn zur Auszahlung kam es nur, wenn alle Arbeitstage im Monat gezählt werden konnten.
Immerhin habe ich diesen Aufschwung im Donez-Becken miterlebt, viele Tonnen Kohle mit zerschundenen Händen geschaufelt, ohne Krankheit den vollen Monat durchgehalten, um dann einen Monat später von dem Erlös Brot, Margarine und Wurst kaufen zu können. Hier erlebte ich 1948 das Aufbegehren der Gefangenen, weil das sowjetische Versprechen, alle deutschen Kriegsgefangenen bis zum 31. Dezember 1948 nach Hause zu schicken, nicht eingehalten wurde. Das Plakat am Lagertor: "Ein Stalin-Wort ist unumstößlich. Alle fahren 1948" wurde im November 1948 abmontiert. Die Gefangenen blieben.
Ich kam für meine Beteiligung am Protest in ein Straflager und durfte Steine für den Wolga-Don-Kanal in Bahnwagen verladen - beim Monatsverdienst von 200 Rubel. Aber das Gros der deutschen Kriegsgefangenen - 241500 in die Bundesrepublik und etwa 50000 in die DDR - fuhr bis Ende 1949 nach Hause. 42000 blieben zurück.
Es begann die vierte und letzte Etappe der sowjetischen Kriegsgefangenschaft, völlig unterschiedlich zu den vorhergehenden; denn ihre kennzeichnenden Merkmale waren: Fast alle waren zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, es gab aber in wachsender Zahl Pakete von zu Hause und dadurch stiegen Zuversicht und Selbstvertrauen.
Die Verurteilung von Kriegsgefangenen durch sowjetische Tribunale hatte schon 1944 begonnen. Nach dem Kriege waren Tausende von Kriegsgefangenen in Gefängnisse gesteckt und verurteilt worden, aber das hinterließ in den Kriegsgefangenenlagern kaum Spuren. Nun aber ab Dezember 1949 wurden über 20000 erfaßt, vernommen und in Massenverfahren binnen 10 Minuten pro Fall zu 25 Jahren "Arbeits- und Besserungslager", oft hieß es in der deutschen Übersetzung "Ausbesserungslager", verurteilt.
Ein Brief vom stellvertretenden Außenminister Wyschinski vom 18. November 1948 an die Sonderkommission im Auftrage Stalins war der Auslöser der Verurteilungswelle. Die Sondergerichte sollten die Kriegsgefangenen als Offizier oder wegen Zugehörigkeit zu bestimmten Einheiten ohne weiteren Schuldvorwurf oder -bekenntnis verurteilen. Und sie vollzogen widerspruchslos diese Willkürjustiz Stalins.
Die Betroffenen sahen sich damals als politische Opfer, Faustpfand im politischen Ränkespiel. Daß es so war zeigte sich im September 1955 bei den Verhandlungen Adenauers in Moskau. Für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland gaben die Sowjetführer um 10000 deutsche Kriegsgefangene ab Ende September 1955 frei. Die letztem 68 kamen erst Ende 1956, ein Nachzügler sogar erst im Juli 1993.
In den Akten der russischen Archive findet sich die Bestätigung aller Annahmen zur damaligen Willkürjustiz. Lakonisch heißt es in den offiziellen Rehabilitierungen der Generalstaatsanwaltschaft in Moskau: "unbegründet, aus rein politischen Motiven verurteilt".
Vor knapp 40 Jahren kehrten die letzten Kriegsgefangenen aus sowjetrussischer Gefangenschaft nach Hause. Abgeschlossen wird dieses Kapitel deutsch-russischer Geschichte aber erst heute durch unsere Auswertung der Akten in den russischen Geheimarchiven. Diese Auswertung ist eine deutsch-russische Gemeinschaftsarbeit. Sie läßt hoffen, daß sich Krieg und Gefangenschaft in der deutsch-russischen Zukunft nicht wiederholen werden.
(C)Ludgerusschule Heiden