Kriegsgefangenen-Brigade auf dem Weg zur Arbeit (Prof. St. Kramer "Im Archipel GUPVI")

Hungerstreik in Nowo Tscherkask

Eine Erinnerung von Günther Wagenlehner

Schlüsselgeklirr. Die Zellentür fliegt auf. Ein Wachoffizier und drei Soldaten bauen sich vor mir auf. Dahinter erscheint eine Ärztin in weißem Kittel mit dem Instrumentenkasten.
Mit einer Wolke billigen Parfüms und wehendem Mantel tritt der Gefängniskommandant auf, ein untersetzter nicht unsympathischer Mann. Ich bin inzwischen von meiner Pritsche aufgestanden. Die Zelle ist beängstigend voll mit Menschen und Gerät.
"Name, Vorname, Vaters Vorname, Jahrgang", fragt der Wachoffizier. Dasselbe hat er mich an jedem Tag der vergangenen Woche gefragt. Ich antworte. Er vergleicht mit seinen Akten. Der Bürokratie ist Genüge getan.
Der Kommandant erhebt seine Stimme: "Ich frage Sie, ob Sie Ihren Hungerstreik einstellen?"
Ich radebreche: "Nein, ich höre erst auf, wenn die Untersuchung beginnt. Das habe ich Ihnen vor einer Woche erklärt und dabei bleibe ich."
"Gut", tönt mein Gefängnisdirektor: "Und ich wiederhole ebenfalls meine Erklärung: Hier sterben Sie nicht. Wir werden dafür sorgen, daß Sie am Leben bleiben."
Die weißbekittelte Ärztin schiebt sich nach vorn: "Essen Sie. Sie müssen essen. Hier haben wir Ihnen einiges mitgebracht", und damit deutet sie auf den Hintergrund.
Ich bin wütend. So kann man mit mir nicht reden. Es ist nicht die Angst, dem Hungergefühl nachzugeben. Denn Hunger habe ich gar nicht mehr. Die kritische Zeit liegt vor dem vierten Tag des Hungerstreiks. Danach ist das Hungergefühl überwunden. Heute am achten Tag reizt mich die Naivität der Ärztin, den Hungerstreik erfolglos abbrechen zu sollen, nur weil sie was Schönes zum Essen mitgebracht hat. Also fauche ich sie an. Zwei Soldaten nehmen mich von links und rechts in einen festen Griff.
"Essen Sie freiwillig?", fragt der Wachoffizier.
"Nein."
Unversehens sind meine Hände auf dem Rücken. Ich finde in einer Zwangsjacke wieder. Ein Soldat dreht an dem Verschluß auf dem Rücken. Das zieht die Handgelenke zusammen und tut weh. Und das soll es auch.
Die Ärztin präsentiert mir eine Schale mit etwa einem halben Liter gelber Brühe. Sie erklärt halb deutsch, halb russisch: "Keine Kohlehydrate, dafür Eigelb, Fett und andere Konzentrate."
Nochmalige Frage: "Essen Sie freiwillig?"
"Nein" - der Soldat zieht die Schraube an meinem Handgelenk an. Ich werde immer größer, um den Schmerz zu mildern.
"Mund auf!"
Ich presse die Lippen vor Schmerz zusammen und wachse; bis es nicht mehr geht. Der eine Soldat dreht fester; der andere öffnet mir den Mund mit Gewalt ohne Rücksicht auf Zähne und Gaumen. Die Ärztin schiebt mir einen Schlauch in den Mund. Ich schlucke, stöhne, schlucke weiter. Endlich hat der Schlauch sein Ziel erreicht. Durch den Trichter ergießt sich die gelbe Brühe Schluck für Schluck in meine Magen. Sie schmeckt abscheulich. Bis heute unvergessen. Nie würde ich eine so widerliche Eierpampe freiwillig zu mir nehmen.
Vielleicht hat diese Brühe mir damals das Leben gerettet; aber zugeben würde ich das nicht. Jedenfalls habe ich die Schluckprozedur in jenem Oktober 1950 noch an fünf weiteren Tagen ertragen. Nicht als Held mit Widerstandsgelüsten, sondern aus der Erfahrung des versierten Hungerstreikers, also ohne Zwangsjacke mit freiwilligem Schlauchschlucken. Inzwischen hatte ich erfahren, daß der Schlauch dicker oder dünner ist, trocken oder angefeuchtet - je nach dem Widerstandsgrad des Hungerstreikers.
Im übrigen gibt es ein inneres Einvernehmen zwischen sowjetischen Gefängniswächtern unterer Chargen mit politischen Gefangenen, daß man sich so wenig wie möglich Ärger macht. Mit oberen Dienstgraden, sowjetischen Lagerkommandanten und Vernehmungsoffizieren, hatte ich meist Krach. So war ich auch vor wenigen Tagen vom Lager Schachty zusammen mit vier anderen deutschen Kriegsgefangenen als oppositionelle Elemente ins Gefängnis abgeschoben worden.
Begründung: Unser Aufstand im Lager Schachty, als am 25. September 1950 750 Kriegsgefangene gegen die brutale Behandlung seitens der Lagerbehörden demonstrierten. Ich hatte drei Stunden mit dem sowjetischen Lagerkommandanten um die Freilassung von zwei Kameraden aus dem Karzer verhandelt. Währenddessen stand die Lagerbelegschaft geschlossen vor der Kommandantur.
Am Ende kamen die beiden aus dem Karzer frei. Wir hatten gesiegt und feierten die ganze Nacht. In den nächsten Tagen war das Lager in Hochstimmung. Aber am 9. Oktober 1950 kam die Quittung.
Der Tag begann ungewöhnlich. Der sowjetische Lagerkommandant, ein Oberstleutnant, besuchte mich an meiner Arbeitsstelle. Seine Erklärung: Er müsse mich zu einem längeren Gespräch über den Aufstand im Lager holen. Damit das schneller geht, komme er selbst. Das Lager habe ich von innen nicht mehr gesehen. Halt am Stabsgebäude vor dem Lager. Der sowjetische Oberstleutnant läßt mich als erster die Treppe hinaufsteigen. Ich öffne die Tür - und stehe vor einem Spezialkommando in schwarzen Uniformen mit Maschinengewehr, aufgebaut auf einem Tisch.
"Hände hoch!"
Durchsuchung. Ab ins Nebenzimmer. Hier warten schon zwei. Noch zwei Kriegsgefangene werden auf die gleiche Weise empfangen. Aus Furcht vor einem neuen Aufstand hatte man uns von der Lagerbelegschaft isoliert. Auf Lastwagen verfrachtet, fahren wir die 50 km von Schachty nach Nowo Tscherkask. Das Begleitkommando bis an die Zähne bewaffnet. Strengstes Redeverbot. Es reicht gerade noch zur Verabredung zum Hungerstreik.
Einen Teil meiner Sachen verliere ich bei der Durchsuchung im Gefängnis. Den wichtigsten Teil meines Besitzes hatte ich ohnehin im Lager zurücklassen müssen Meine erste Gefängniszelle trägt die Nummer 88.
Einzelhaft und totale Isolierung. Man hat uns im fünften Stock des Sondergefängnisses auf 18 Zellen so verteilt, daß stets eine Leerzelle dazwischen liegt.
Ich betrete Zelle 88 mit dem festen Vorsatz, bis zum Vernehmungsbeginn den Hungerstreik durchzuhalten. Wir wollten damit höheren Orts auf uns aufmerksam machen; denn es gab Kriegsgefangene, die im Gefängnis ohne Prozeß verschollen waren.
Erster Montag im Gefängnis. Der Kalkfaktor legt die Tagesration auf die Klappe. Ich werfe das Brot in den Flur und schreie: "golodowka" - in der Hoffnung, daß durch das russische Wort und die Gesten mein Hungerstreik offiziell entgegengenommen wird. Das wiederholte sich bei der Ausgabe des winzigen Blechnapfes mit Graupenbrei, Kascha genannt.
Drei Tage lang beschäftigte ich meinen wachsenden Hunger mit Zorn gegen jeden, der an der Zellentür erscheint. Essen aller Art werfe ich durch die Klappe in den Flur. Auch bessere Angebote, als die kärgliche Gefängniskost, die ich nach der Rückkehr vom Spaziergang in der Zelle vorfinde, werden buchstäblich am Boden zerstört.
Aggression erscheint mir als die beste Möglichkeit zum Schutz gegen den Hunger. So verwandelt sich der Hunger in Wut gegen jedermann. Auch harmlose Buchverleiherinnen, Wäscheausgeber oder Kantinenverkäufer beschimpfte ich, sobald sie die Klappe an der Tür öffnen. Mein sprödes Verhalten schreckt ab, schafft Bewunderung. Das Zauberwort "Hungerstreik" bringt Anerkennung beim Gefängnispersonal, meist altgediente Unteroffiziere aus dem Kriege. Man drückt ein Auge zu, wenn ich am Tage auf der Pritsche liege. Von oben verordnete Durchsuchungen werden von den Sergeanten oft zu Gesprächen genutzt.
Kurzum: Zwölf Tage Hungerstreit am Anfang meiner Gefängnishaft sicherten mir Ansehen, Aufmerksamkeit und sogar Wohlwollen des Personals bis zum Kommandanten.
Wird in der Sowjetunion offiziell Hungerstreik erklärt, dann gelten klare Regeln. Damals, 1950 in Nowo Tscherkask, wurde genau aufgepaßt. Es gibt bestimmte Rechte, aber Mogeln gilt nicht. Nach meiner ersten Klärung erschienen nacheinander der erste Wachhabende Unteroffizier, der diensthabende Offizier und schließlich der Gefängniskommandant. Ihre wichtigste Frage: Waren machen Sie Hungerstreik? Und die wichtigste Feststellung dazu: In unserem Gefängnis stirbt niemand am Hungerstreik. Dies war in den ersten Jahren der Kriegsgefangenschaft völlig anders. Inzwischen waren unsere Namen aber zu Hause bekannt. Offensichtlich wollte man Ärger vermeiden.
Alle sowjetischen Gefängnisbeamten waren zufrieden, daß ich keine Beschwerden über das Gefängnis vorbrachte. Infolge dessen hatte ich ihre Sympathien und sie versprachen, meine Forderungen weiterzugeben. Dieses Versprechen haben sie eingehalten. Von Tag zu Tag erschienen ein Dienstranghöherer nach dem anderen: Staatsanwalt, Richter und schließlich am fünften Tag ein Vertreter von einer Moskauer Behörde
Stets sind die wachhabenden Offiziere und der Gefängniskommandanten dabei. Aufmerksam verfolgen sie die Diskussionen mit den auswärtigen Besuchern. Der Stolz ist unverkennbar wenn sich der prominente Gefangenen gut schlägt. Hungerstreik in Nowo Tscherkask, weil eine Behörde in Rostow die Untersuchung verzögert, bringt im Gefängnis Nowo Tscherkask Sympathien.
Das Ziel des Hungerstreiks muß allerdings für alle Beteiligten einsehbar ein. Hungerstreik für die sofortige Rückkehr nach Hause lohnt sich nicht und beeindruckte niemanden. Ebensowenig empfahl sich ein Hungerstreik für besseres Essen und saubere Wäsche. Ich habe nur einmal im März 1951 einen Hungerstreik unternommen, der die Gefängnisverwaltung betraf : Ich fand nach der Verlegung in eine andere Zelle eine Vorschrift, in der ausdrücklich der Empfang von Paketen von Angehörigen der Gefangenen erlaubt war. Nach drei Tagen Hungerstreik erhielt ich ein Paket aus Deutschland ausgehändigt. Die Gefängnisverwaltung hatte sich für mich eingesetzt.
Hauptproblem für den Hungerstreikenden in Sowjethaft ist die Langeweile. Kein Buch, Rundfunk oder etwa Fernsehen, keine Möglichkeit zum Schreiben, keine Ablenkung. Auf den Essensempfang als einziger Ablenkung im Gefängnis, hat der Streiker verzichtet.
Wut nach außen. Konzentration auf die eigenen Gedanken. Ich habe mich nach jeder Richtung als Gedankenakrobat betätigt. Aufzählung von Geschichtsdaten, weiblichen und männlichen Vornamen, Gedankenspiele aller Art, Schach und Übersetzungsaufgaben zur Ablenkung. Dies alles mit dem festen Willen, das gesteckte Ziel zu erreichen.
Mein Ziel damals in Nowo Tscherkask war bescheiden: Beginn der Vernehmungen, wie es das sowjetische Gesetz vorsieht. Die Untersuchung begann am zwölften Tag. Ich brach den Hungerstreik ab und fühlte mich als Sieger. Tatsächlich gab es überhaupt keinen Verlierer.
Am Ende hatten alle gesiegt. Die Vernehmungsbeamten werteten den Beginn der Untersuchung als Beweis für die Rechtmäßigkeit ihres Verfahrens. Der Gefängnisdirektor war stolz auf seine erfolgreiche Taktik und nicht zuletzt auf seinen Gefangenen, der es denen in Rostow und Moskau gezeigt hatte.
 

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