Wie jedes Jahr um dieselbe Zeit wurde unsere ganze Familie im Frühsommer von der Reiselust gepackt.
Während mein Vater den alten geliehenen DKW von Onkel Toni auf Hochglanz polierte, kaufte meine Mutter Vorräte zum Mitnehmen ein, damit unsere Haushaltskasse durch den bevorstehenden Urlaub nicht zu sehr belastet wurde.
Mein Opa, damals 63 Jahre alt und erst kürzlich verwitwet, fuhr natürlich mit und nahm als Zimmermeister noch die eine oder andere Arbeit zusätzlich an, damit auch dieses Jahr der Traum von der großen. weiten Welt in Erfüllung gehen konnte.
Ich, 8 Jahre alt, hatte schon gehört - dieses Jahr fahren wir nach Italien! An die Adria, mit viel Sonne, Strand und Meer!
Ein bisschen italienische Luft hatten wir bereits im letzten Jahr geschnuppert, da ging's nämlich an den Gardasee. Nur leider - ich hatte dir Masern und musste statt am See die meiste Zeit im Zelt liegen. Aber die Masern bekommt man ja nur einmal im Leben, also freute ich mich auf die weite Welt.
Ach, wäre sie doch nur nicht so weit gewesen!!
Stunde um Stunde saßen wir in diesem Vehikel, am Zirlerberg war dann erst mal Schluss. Der DKW kochte und spuckte. Die Steigung und die Hitze machten dem Auto genauso zu schaffen wie mir. Wie viele andere mit offener Motorhaube standen wir geduldig neben unserem Gefährt und warteten, bis es wieder abgekühlt und startklar war.
Die Po-Ebene brachte weiteren Verdruss - unerbittlich kroch die Temperatur im Auto ins Unerträgliche. Eingepfercht zwischen Zelt, Liegen, Schlafsäcken, Kochutensilien und Strandzubehör hockte ich in einer kleinen Ecke des Autos und spürte, dass mein Magen nicht länger die Hitze und den ständig leichten Benzingeruch hinnehmen würde.
Mein Vater, der einzige im Auto mit Führerschein und bereits viele Stunden am Steuer, fluchte über die häufigen Zwangspausen, die ich nun verursachte.
Das Ziel, Misano Mare - es lag so nah!
Dann endlich waren wir da. Der erste Blick in unserem Leben auf ein italienisches Meer. Blau glänzend, ohne eine Welle strahlte es uns entgegen.
Kilometerlange Sandstrände, sauber und angenehm leer lockten zum Faulenzen und Spielen. Schnell war die Strapaze der langen Fahrt vergessen, auf einem Campingplatz wurde das Zelt aufgebaut, der Kocher in Betrieb genommen und wir fühlten uns bald schon ganz wie zu Hause. Herrliches Wetter verwöhnte uns und ich spielte stundenlang im warmen, flachen Meer, das mir eher wie ein riesiger See vorkam, in den ich immer weiter hinein laufen konnte, ohne dass es gefährlich tief wurde.
Eines Nachmittags zogen dann ein paar Wolken auf, erst kleine, dann große dunkle, und die Sonne verschwand. Dafür kam Wind, erst ein bisschen und dann so viel, dass alle in ihre Zelte krochen. Überall hörte man es hämmern. Dicke Heringe wurden zusätzlich in den Sandboden gehauen, mit Kordeln die Zeltplane sorgfältig abgespannt. Es war eine eigenartige Stimmung. Draußen sah man nur noch eifrig arbeitende Männer - sonst niemanden mehr. Der Wind war zum Sturm geworden, vor dem sich alles in Sicherheit gebracht hatte.
Der Himmel war pechschwarz und es goss in Strömen.
Nur mit Badehose bekleidet versuchte mein Vater um unser Zelt herum einen Wassergraben zu ziehen. Andere Zeltnachbarn kamen dazu und gemeinsam arbeitete sich nun ein kleines Team durch die Zeltstadt. Das konnte aber nicht verhindern, dass nach und nach die Regenfluten in alle Zelte eindrangen und auch in unserem Vorzelt alles unter Wasser stand. Nach ein paar Stunden ließen Regen und Sturm etwas nach. Vorsichtig schaute ich einen kleinen Moment unter der Zeltplane nach draußen.
Das Meer tobte und hatte riesige Wellen. Schnell legte ich mich wieder ins Schlafzelt und wickelte mich wieder in meinen warmen, noch fast trockenen Schlafsack. Die Wärme machte mich schläfrig und ich merkte nun, wie müde ich war. Durch lautes Getöse und die Stimmen meiner Eltern geweckt, sah ich, dass mein Vater und mein Opa im Schlafzelt im Wasser standen und die Zeltstangen festhielten. Die Zeltplanen blähten sich auf, das ganze Zelt ächzte und bog sich im Sturm. Meine Mutter rief mir zu, das Unwetter habe sich gedreht und sei nun noch schlimmer wieder zurückgekehrt.
Plötzlich schrie mein Vater auf. Seine Hand blutete, denn die eiserne Zeltstange war durchgebrochen und hatte ihn verletzt. Jetzt war das Schlafzelt nicht mehr zu halten. Schnell räumte ich mit meiner Mutter notdürftig alle Sachen zusammen und wir packten sie in eine Ecke des Vorzeltes. Dann mussten wir hinaus in den tosenden Sturm.
Voller Angst klammerte ich mich an meiner Mutter fest und wir kämpften uns bis zu unserem Auto vor, das glücklicherweise gleich neben dem Zelt stand. Hier war es wenigstens trocken. Mein Vater und mein Opa kamen einen kurzen Augenblick später und mein Vater startete sofort das Auto und fuhr auf unser schönes Zelt, das völlig flach am Boden lag. Ich hatte große Angst, dass nun alle Sachen kaputt sein könnten und begann zu weinen. Meine Mutter tröstete mich und mein Vater versicherte mir, dass das Auto nur da stehe, wo keine Sachen gelegen hatten.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden wir nun in dem schwankenden Wagen warten mussten, bis der Regen und der Sturm langsam fortzogen. Als es hell wurde, sahen wir, dass nur noch einige Wohnwagen auf dem Campingplatz standen. Kein Zelt hatte dieses Unwetter überstehen können.
Als wir dann endlich ausstiegen, hörten wir immer noch ein lautes Tosen. Plötzlich sah ich das Meer. Riesige Wellen schlugen bis nahe an den Campingplatz an den Strand. Ich konnte nicht glauben, dass dieses blaue, ruhige Meer sich so schrecklich verändern konnte. Wir sahen am Strand viele Menschen, die versuchten Gegenstände aus dem Wasser zu ziehen, die dort schwammen. Viele Zeltbewohner hatten in dieser Nacht alle ihre Sachen verloren und irrten nun auf dem Campingplatz herum, um noch irgend etwas zu finden. Die meisten hatten wie wir die Nacht im Auto verbracht oder sich in den Waschhäusern in Sicherheit gebracht.
Irgendwie hatten wir das Gefühl, dass wir noch einmal Glück gehabt hatten, denn nach einer gründliche Reinigung aller Sachen konnte alles in Ruhe trocknen. Die kaputte Zeltstange wurde ausgetauscht und wir mussten nicht - wie so viele unserer Zeltnachbarn - nach Hause fahren.
Den restlichen Urlaub bei strahlendem Sonnenschein konnten wir wieder genießen, aber vergessen haben wir diese Nacht bis heute nicht.
(C)Ludgerusschule Heiden