Ingo Jung
Zu dritt hatten wir uns aufgemacht, um am Tag der Deutschen Einheit in Berlin zu sein. Wir waren noch Schüler, gingen wohl in die zehnte Klasse, und die zwei schulfreien Tage, die unsere Fahrt verbotenerweise mit sich brachte, mögen bei der Überlegung, nach Berlin zu fahren, durchaus eine Rolle gespielt haben. Unser Empfang war nicht sehr herzlich und bestätigte leider die Bedenken unserer Eltern. Als wir die U-Bahn-Station in Kreuzberg verließen, flogen bereits Steine und Flaschen über uns hinweg, deren vages Ziel wohl die gegenüber abgestellten Mannschaftswagen der Polizei waren. Nichts als jugendliches Geplänkel mit der gewaltig überlegenen Staatsmacht, nicht wirklich eine Straßenschlacht, aber am späten Abend von flackerndem Blaulicht, nervösen Polizisten in Kampfanzügen und hagelnden Wurfgeschossen in einer übergroßen und dazu noch völlig fremden Stadt begrüßt zu werden, war uns tatsächlich zu viel. Ganz klein und leise machten wir uns mit unserem Gepäck auf die Suche nach unserer Bleibe für die Nacht und wandten uns, um den Weg zu erfragen, voller Vertrauen an eine türkische Jugendgang. Man wies uns freundlich den Weg, nicht ohne uns zu bedeuten, in Zukunft etwas vorsichtiger zu sein.
Wie wir überhaupt an die Adresse dieser WG geraten waren, ist mir auch heute noch rätselhaft, aber das Zimmer war groß und das Frühstück ausgedehnt. Schließlich begaben wir uns ins Getümmel. Das heißt, wir w o l l t e n, kamen aber nur bis zur U-Bahn-Station, weil an diesem Morgen einfach zu viele Leute dieselbe Idee hatten und uns keine Chance ließen, die völlig überfüllte Bahn zu betreten. Irgendwie quetschten wir uns aber schließlich doch bis auf den Alexanderplatz vor, rempelten uns bis zum Brandenburger Tor und wurden gegen Abend schließlich mit vor das Reichstagsgebäude geschwemmt. Das war uns ganz recht, da wir sowieso vorhatten, dorthin zu gehen, aber hätten wir uns spontan dagegen entschlossen, ich glaube, wir wären dennoch da gelandet. Ob nun mit oder ohne Alkohol (meist aber wohl m i t, wie die Unmengen leerer Becher und Flaschen verrieten), die Stimmung war ausgelassen. Über der großen, bevölkerten Wiese vor dem Reichstag sollte an einem eindrucksvollen Mast eine dem Anlass entsprechend riesige Deutschlandfahne aufgezogen werden. An begeistertem Beifall und Jubel mangelte es nicht, wohl aber an Wind, so dass aus dem majestätisch wallenden Tuch doch eher ein schlaffes Geflatter wurde. Wir nutzten inzwischen jede sich bietende Lücke, um noch etwas näher an die zu erwartende Prominenz heran zu kommen, bis wir uns unversehens in der ersten Reihe wiederfanden. Dort harrten wir aus und öffneten die eine oder andere Flasche Sekt, was den hellen Mantel einer neben uns stehenden Dame ruiniert haben dürfte. Schließlich kam ER. Unter großem Applaus betrat der damalige Bundeskanzler die erhöhte Treppe des Reichstages und ließ sich feiern. Derweil nahmen wir den Kleinsten von uns auf die Schultern. Wir standen dermaßen zentral, dass der Kanzler nur seine Hand nach unten hätte ausstrecken müssen, um eine der unseren ergreifen zu können.
Und tatsächlich: unter frenetischem Jubel reichte er nach unten, und gerade, als ich sicher war, dass er den von uns Geschulterten per Handschlag symbolisch im freien Deutschland willkommen heißen wollte, nahm Herr Kohl die eigene Linke in die Rechte und schüttelte sie kräftig. Und in dieser Siegerpose ließ er sich geraume Zeit feiern, während man weiterhin seinen Namen skandierte.
Für mich bleibt die Frage, warum wir eigentlich hingefahren sind, unbeantwortet. Wir waren nicht gerade entflammte Patrioten, und ich für meinen Teil hatte mit Ostdeutschland vor dem Mauerfall überhaupt nichts zu tun, hatte weder Verwandte noch Freunde dort und schon vorher n a i v e r w e i s e nie verstanden, warum man da quer durch Berlin eine Mauer gebaut hatte. Wenn da nicht diese beiden schulfreien Tage gewesen wären ...
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