Eberhard Diepgen (CDU)

 

Die Insel wird Festland

Vom geteilten Berlin zur "Werkstatt der Einheit"

von Eberhard Diepgen

"...

3.Oktober

Der Tag der Deutschen Einheit war weniger spontan, weniger begeisternd, aber auch weniger chaotisch als der 9. November 1989. Ich stand in der Masse der Berliner vor dem Reichstag und beobachtete, wie die Sportler die deutsche Fahne hißten. Für mich war das ein würdevoller, vor allem ein bewegender Augenblick. In Gedanken war ich sicher mehr bei der Gestaltung der Zukunft, doch den Blick zurück konnte ich doch nicht ganz lassen.

Politische Verantwortung hatte ich angestrebt und übernommen, weil ich einen Beitrag leisten wollte zur sozialen Gerechtigkeit und zur Überwindung der Teilung meines Vaterlandes und meiner Heimatstadt. Wie oft mußte ich mich öffentlich schelten lassen für mein Festhalten an der Einheit der deutschen Nation. Jetzt hatte es sich gelohnt, daß wir bei der Berliner Stadtplanung immer an die ganze Stadt gedacht haben. Der Reichstag würde bald Sitz des deutschen Parlaments werden. Unwichtig war dabei, daß 1989 zunächst der Ausbau des Reichstages zu einem modernen Versammlungsgebäude gescheitert war. Walter Momper hatte im Mai 1989 auf einem Aktenvermerk über Pläne zum Ausbau des Reichstages mit Kuppel nur kurz vermerkt: »Berlin hat kein Interesse mehr daran, daß die Kuppel auf dem Reichstag wieder aufgebaut wird... So kann man die Sache schlicht einschlafen lassen.« In Abstimmung mit Helmut Kohl waren die Überlegungen auf der Grundlage von Plänen des Kölner Architekten Böhm schon sehr weit gediehen. Nach den Berliner Wahlen 1989 wurden sie nicht weiter verfolgt.

Am 3. Oktober 1990 hatte ich noch die Illusion, Bundesregierung und Bundestag würden umgehend - wie es in der Präambel zum Grundgesetz hieß - ihre Tätigkeit in der Bundeshauptstadt Berlin aufnehmen. Eigentlich hätte die Symbolik eines solchen Schrittes und ihre Bedeutung für den deutschen Einigungsprozeß die Verantwortlichen in Bund und Ländern überzeugen müssen. Aber von Symbolik verstehen offensichtlich unsere Nachbarn mehr.

Berlin wird seit dem ersten Jahrestag der deutschen Einheit 1991 nicht mehr vom Westen, vom Rathaus Schöneberg, sondern aus der Mitte, aus dem alten Berliner Rathaus, regiert. Wir zogen mit der Senatskanzlei auf eine halbe Baustelle. Erster Besucher war der französische Staatspräsident Francois Mitterrand. Vielleicht stand er bei dem Bemühen um die deutsche Wiedervereinigung nicht in vorderster Front. Bei seinem Aufenthalt in Berlin im September 1991 bestand er aber auf einen Besuch im alten Rathaus in der Mitte der Stadt und im ehemaligen sowjetisch besetzten Sektor. In der mühsam hergerichteten Baustelle trug er sich in das Goldene Buch ein. Die Mitarbeiter der Senatskanzlei bezogen erst wenige Tage später, offiziell am 3. Oktober 1991, ihre Schreibtische. Frankreich aber hatte sich zur Wiedervereinigung Deutschlands, der Vereinigung Berlins und seiner Verantwortung für diese Entwicklung bekannt, wie immer an der Spitze der Bewegung.

Seit dieser Zeit hat das Berliner Rathaus viele und berühmte Staatsgäste gesehen. Den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und den russischen Präsidenten Boris Jelzin, den japanischen Kaiser Akihito und die britische Königin Elisabeth II., um nur wenige Beispiele zu nennen. Die erste Legislaturperiode war eine Zeit des Zusammenwachsens, der Hoffnungen und Pläne, aber auch der Grundsteinlegungen und Richtfeste. Die alten Verkehrsverbindungen auf Straße und Schiene wurden unter großem Aufwand schnell wiederhergestellt. In den vier Jahren nach der Wiedervereinigung wurden mehr Telefonanschlüsse als in den 40 Jahren der gesamten DDR gelegt.

Ebenso wichtig wie die Verknüpfung und Vernetzung der Infrastruktur und der Kommunikationssysteme sowie die Angleichung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse scheint mir das mentale Zusammenwachsen zu sein, die Verbindung von Herzen und Seelen der oft noch als Ossis und Wessis gescholtenen Deutschen. Diese gewaltige Aufgabe ist heute bei weitem noch nicht abgeschlossen, viele rechnen damit erst zur Jahrtausendwende. Für mich persönlich sehe ich die große Herausforderung darin, nach der von mir ersehnten staatlichen Wiedervereinigung, nun - wo immer es mir möglich ist - das meine dazu beizutragen, um die innere Einheit Deutschlands zu vollenden. Das war 40 Jahre lang unser wichtigster Verfassungsauftrag."

Quelle: "Erlebte Einheit: ein deutsches Lesebuch", Eberhard Diepgen (Hrsg.)
Ullstein Verlag 1995, S.39-42, ISBN 3-550-07078-0
 

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