Hans-Dietrich Genscher beschreibt in seinem Buch "Erinnerungen", wie er die Entscheidung getroffen hat, aus seinem Amt als Außenminister auszuscheiden, das er über einen Zeitraum von 18 Jahren unter wechselnden Regierungen innehatte.
Seit achtzehn Jahren war ich nun Außenminister und seit fast dreiundzwanzig Jahren Mitglied der Bundesregierung - das sind sehr lange Zeiträume, wenn man bedenkt, daß Demokratie die befristete Übertragung von Verantwortung bedeutet. Der Bundespräsident etwa kann höchstens zehn Jahre im Amt bleiben. Mir war es erspart geblieben, durch Wahlen oder andere Ereignisse gegen meinen Willen ausscheiden zu müssen. Um so größer war meine Verantwortung, den geeigneten Zeitpunkt meines Ausscheidens selber zu bestimmen. Zunächst allerdings ließ mir die dienstliche Beanspruchung keine Zeit, solchen Gedanken weiter nachzugehen. Erst im Sommer 1991, während unseres Urlaubs in Berchtesgaden, kamen meine Frau und ich nach vielen Gesprächen zu dem Ergebnis, daß ich noch vor den Parlamentsferien des kommenden Jahres von meinem Amt zurücktreten sollte.
Auf diese Weise würde mein Nachfolger genügend Zeit haben, sich vor der Bundestagswahl 1994 in seine Aufgaben einzuarbeiten. Er oder sie sollte die Chance besitzen, einen eigenen Stil, ein eigenes Profil, eine eigene Handschrift in der deutschen Außenpolitik zu entwickeln. Ich war mir darüber im klaren, daß mein Rücktritt zu Spekulationen darüber führen konnte, ob ich mir damit eine günstigere Ausgangsposition für die Wahl zum Bundespräsidenten verschaffen wollte. Natürlich habe ich mich auch mit dem Gedanken befaßt, ob ich mich um das höchste Staatsamt bewerben soll. Aber ich war immer ein Mann des Parlaments und der Exekutive, und meine Erfahrungen konnte ich auch so in der deutschen Politik zur Geltung bringen. Außerdem wäre es inkonsequent gewesen, nach dreiundzwanzig Jahren Regierungszugehörigkeit meiner Amtszeit selber ein Ende zu setzen und sogleich ein neues Amt anzustreben. So nahm ich mir vor, bei nächster Gelegenheit und noch vor meiner offiziellen Rücktrittserklärung öffentlich klarzustellen, daß ich nicht Bundespräsident werden wollte."
aus "Erinnerungen" von Hans-Dietrich Genscher, Siedler Verlag, 1995, S. 1003
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