Eduard Schewardnadse

1985 berief Gorbatschow den Georgier Eduard Schewardnadse als Nachfolger von Außenminister Gromyko zum Außenminister. Die folgenden fünfeinhalb Jahre prägte Schewardnadse die Außenpolitik der Großmacht. In dieser Zeit zogen die sowjetischen Truppen aus Afghanistan ab, in der Abrüstungspolitik wurden Erfolge erzielt, Veränderungen im Ostblock wurden geduldet, in der Golfkrise arbeitete er mit dem Westen zusammen, und er ebnete den Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands. Schewardnadse hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Moskau der deutschen Wiedervereinigung zustimmte. Er war wichtigster Weggefährte des damaligen Staatschefs Michail Gorbatschow und bedeutendster Gesprächspartner von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher.
Ende 1990 trat er als Außenminister zurück und ist seit 1992 Staatsoberhaupt von Georgien.

Der folgende Text schildert ein Zusammentreffen zwischen Genscher und Schewardnadse mit erfrischend menschlichen Zügen. Entnommen haben wir es dem Buch "Erinnerungen" von Hans-Dietrich Genscher (Siedler Verlag, Berlin, 1995 / Taschenbuchausgabe im Goldmann Verlag, 1997). Die Texte wurden uns von Genschers Büro zur Verfügung gestellt.

"Am Abend des 14. Juni 1989 hatten meine Frau und ich ein Erlebnis, wie es selbst in einem Roman kaum besser erfunden werden könnte. Es war ein wunderschöner Sommertag. Der Bundeskanzler hatte das Ehepaar Gorbatschow abends zu sich in den Bungalow geladen, und so luden wir Schewardnadse, der ohne seine Frau nach Bonn gekommen war, zu uns nach Hause. in der Kantine des Auswärtigen Amts dann hatten wir das Essen bestellt, eine Suppe, ein Spargelsalat, dann ein Fischgericht und eine Nachspeise. Meine Frau und ich warteten im Garten. Der Kellner, den wir für den Abend engagiert hatten, brachte uns ein Getränk. Er teilte uns mit, die Ankunft Schewardnadses werde sich um eine Stunde verzögern, weil die sowjetische Delegation in Stuttgart, wo man Mercedes Benz besucht hatte, länger aufgehalten worden sei. Aus diesem Grund würden die Gorbatschows später als geplant zu den Kohls kommen und Schewardnadse später zu uns.

Für uns war das durchaus beruhigend. Denn obwohl die Ankunft Schewardnadses für 19 Uhr vorgesehen war, war der Koch um 18 Uhr noch immer nicht mit den Speisen eingetroffen. Eine dreiviertel Stunde später erschien er schließlich, wobei sich herausstellte - es war das erste Mal, daß ich so etwas erlebte - , daß es ein Mißverständnis über den Zeitpunkt gegeben hatte. Wir genossen weiter den schönen Abend, sprachen über den abgelaufenen Tag. Plötzlich, es war 20 Minuten vor Acht - also 20 Minuten vor dem nun angekündigten Eintreffen Schewardnadses -, erschien der Koch mit bleichem Gesicht im Garten und sagte: »Der Fisch ist weg.« »Welcher Fisch?« »Ich habe in diesem silbernen Behältnis den Fisch mitgebracht. Das silberne Behältnis ist leer.« »Vielleicht haben sie das falsche Behältnis mitgenommen?« Noch heute glaube ich, daß dies die Lösung des Geheimnisses war.

Der Koch sagte jedoch: »Es gibt nur eins. Ich fahre sofort in das Ministerium zurück und hole in der Kantine den Fisch , denn der Fisch muß ja noch da sein.«

Ich erklärte mich einverstanden: »Diese Zeit können wir leicht überbrücken. Der Abend ist schön Schewardnases wird sicher gerne eine Weile mit uns im Garten sitzen. Wir trinken etwas, dabei können wir schon unser Gespräch aufnehmen.« Außer meinem sowjetischen Kollege und mir sollten nur noch die beiden Dolmetscher daran teilnehmen, da meine Frau sich während des Essens zurückziehen wollte. Der Koch fuhr nun mit seinem Wagen los, kehrte aber fünf Minuten vor Acht zurück, noch schreckensbleicher als zuvor. »Sind Sie aber schnell von hier zum Auswärtigen Amt und zurück gekommen«, meinte ich. »Nein«, antwortete er, »ich war gar nicht dort, und ich komme auch nicht hin. Die Straße ist abgesperrt für Herrn Schewardnadse, der jeden Moment eintreffen wird.« »Dann können wir dem Schicksal nicht mehr entgehen«, erwiderte ich. »Wir müssen das Essen ohne Fisch beginnen.

Kurz darauf erschien Schewardnadse. Wir aßen die Suppe, der Spargelsalat wurde serviert, dann hob ich zu einer Rede an, obwohl sich zwischen uns bei Begegnungen dieser Art längst eingebürgert hatte, daß wir keine Tischreden hielten. »Lieber Kollege Schewardnadse«, sagte ich, »Sie hätten jetzt eigentlich einen Fisch bekommen sollen. Aber der ist verschwunden. Die Küche weiß nicht, wo er ist; also haben wir keinen Fisch. Sie sehen, auch in Deutschland ist nichts vollkommen.« Dann schlug ich vor, in ein öffentliches Restaurant zu gehen; meine Frau solle mit uns kommen. Schewardnadse, sofort mit meinem Vorschlag einverstanden, lachte, er fand den Vorfall höchst amüsant.

Also rief meine Frau bei Ria in der Weinstube »Maternus« an, und wir fuhren mit nur zwei Fahrzeugen - der Rest der Kolonne war wegen der voraussichtlichen Dauer des Zusammentreffens schon wieder weg - nach Godesberg. Ria hatte uns einen Tisch in dem schönen, von überwachsenen Mauern umgebenen Garten hinter ihrem Lokal freigehalten. Dort nahmen wir Platz - die beiden Dolmetscher, Schewardnadse, meine Frau und ich. Auch andere Gäste saßen noch im Garten, der insgesamt über nicht mehr als zehn Tische verfügt. An einem der größeren Tische in der hinteren linken Ecke sah man eine Herrengesellschaft, und ich stellte fest, daß dort der Staatssekretär Schreckenberger saß, der längere Zeit die deutschen Geheimdienste im Bundeskanzleramt koordiniert hatte. Außerdem waren die Chefs aller deutschen Dienste und Sicherheitsbehörden anwesend: der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der Präsident des Bundeskriminalamtes, der Präsident des Militärischen Abschirmdienstes und noch ein paar andere Herren des Bundeskanzleramtes. Man nickte uns freundlich zu.

Wir bestellten den Fisch, den wir zu Hause nicht bekommen hatten. Ria setzte sich in ihrer unnachahmlichen Art zu uns, gewann schnell das Vertrauen Schewardnadses und sagte, nun wolle sie ihm eine besondere Freude bereiten. Sie habe eine vorzügliche Erdbeerbowle und würde sie uns jetzt gern auf den Tisch stellen. So geschah es, und Eduard Schewardnadse sprach der Bowle mit steigendem Vergnügen zu. Plötzlich erhob sich Staatssekretär Professor Schreckenberger und kam an unseren Tisch: »Herr Minister, würden Sie mich bitte dem Herrn Außenminister vorstellen?« »Das ist Professor Schreckenberger, der bis vor kurzem Im Bundeskanzleramt tätig war«, wandte ich mich an Schewardnadse. Diese Beschreibung schien Schreckenberger allerdings nicht zu genügen. Er ging ins Detail, erwähnte, daß er dort mit der Aufgabe betraut gewesen sei, die Geheimdienste zu koordinieren, und die Chefs der Geheimdienste - er wandte sich zurück an seinen Tisch - säßen dort drüben. Die Herren prosteten Schewardnadse zu. BND-Präsident Wieck, der mehrere Jahre Botschafter in Moskau gewesen war, rief »Nasdorowje«. Der sowjetische Dolmetscher wurde blaß, als er das alles übersetzte. Einen Moment lang hatte ich die Sorge, Schewardnadse könne den Eindruck gewinnen, der fehlende Fisch sei nur eine Finte gewesen, um ihn in dieses Lokal zu locken. Deshalb überbrückte ich die nicht ganz einfache Situation mit der Bemerkung: »Wenn Sie jetzt zurückkommen nach Moskau, dann können Sie dem Chef Ihres KGB sagen, Sie hätten alle die Leute, die er in seinen Akten nur mit Bild und Lebenslauf hat, in natura gesehen.« Schewardnadse lachte aus vollem Herzen. Wir blickten uns an. Wir wußten. Hier sitzen sich zwei Menschen gegenüber, die sich vertrauen, und die auch eine nicht ganz einfache Situation bestehen können. Professor Schreckenberger verabschiedete sich; wir aber saßen noch bis nach Mitternacht mit Ria zusammen und tranken Bowle, wobei wir uns nicht mit dem ersten Gefäßinhalt begnügten. Es war ein unbeschwerter Abend, obwohl alle wußten, wie entscheidend die historische Entwicklung war, in der wir uns gerade befanden.

Als ich am nächsten Morgen Eduard Schewardnadse traf, sagte er mir, es sei ein schöner Abend gewesen. Und dann äußerte er etwas, was für uns, die wir in den westlichen Demokratien leben, in dieser Form nur schwer nachzuempfinden ist. Schewardnadse sagte nämlich, es sei seit vielen Jahren das erste Mal gewesen, daß er so unbefangen in einem öffentlichen Lokal mit Freunden habe zusammensitzen können, ganz privat und bei einem Essen, das nicht lange vorbereitet worden sei. Auch das ist Politik - das Menschliche in der Politik. Und das schafft Vertrauen - ein Vertrauen, auf dem man aufbauen kann, wenn es darauf ankommt."

aus "Erinnerungen" von Hans-Dietrich Genscher, Siedler Verlag, 1995, S. 631-633
 

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