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Ludgerusschule Heiden
Edith Wienen, Klasse 9a
Velener Str. 29
 
46359 Heiden

Liebe Edith, liebe Schülerinnen und Schüler der Klasse 9a,

von Klaus Drögemüller aus dem Escheder Rathaus bekam ich Euren Brief, den ich gerne beantworte. Ich weiß nicht, wie umfangreich mein Bericht sein soll, deswegen lege ich Euch noch eine Zeitung bei, in der ein Artikel zu finden ist, den ich am Tag des ICE-Unglücks von Eschede geschrieben habe.

Am 3. Juni 1998 hatte ich frei. Es war schönes Wetter, in Eschede schien die Sonne. Ich arbeitete im Garten. Das Geräusch vom Unglück habe ich ganz bewusst gehört. Es war kein Knall, es war aus der Entfernung ich wohne etwa einen Kilometer von der Unglücksstelle entfernt im Ortskern -eher ein Rumpeln, ein Geräusch, als wenn ein Lastwagen mit einer eisernen Ladefläche Steine abkippt. Ich schaute auf die Uhr, ich wusste sofort , dass etwas passiert war, rannte ins Haus, griff mir Kamera und Handy, setzte mich ins Auto und fuhr Richtung Rebberlaher Brücke. Unterwegs sah ich bereits eine große Staubwolke über der Unglücksstelle, die noch von einer Häuserreihe verdeckt war. Als ich aus der Seitenstraße auf die Rebberlaher Straße fuhr, waren schon die aufgetürmten Trümmer zu sehen. Ich fuhr etwa bis auf 100 Meter an die Stelle heran, fuhr mein Auto ganz auf ein Grundstück um die Straße freizuhalten. Das Bild vor mir war so unfassbar! Ich war sehr aufgeregt, rief meine Redaktion an und forderte einen Kollegen und einen Fotografen an. Als ich aus dem Auto stieg, heulte in Eschede die Sirene der Feuerwehr. Es war drei Minuten nach 11 Uhr.

Ich lief die Straße neben der Brückenrampe entlang auf die Unglücksstelle zu. An den Trümmern, die sich hinter der zusammengebrochenen Brücke auftürmten, versuchten Anwohner, mit einer Leiter eine Scheibe an einem der Waggons einzuschlagen. Es war ein fürchterliches Trümmerknäuel, dass sich bis in den Sand der Brückenrampe gebohrt hatte. Nach zwei, drei Minuten bin ich die Böschung zur Brücke hochgeklettert. Direkt vor mir war in der Fahrbahn ein Absatz, etwa einen Meter tief: Der Zug hatte die Fahrbahn zum Einstürzen gebracht, die Straße war in der Mitte gebrochen und auf die Gleise gestürzt. Auf dieser schiefen Ebene lagen die Trümmer eines völlig zerfetzten Waggons. Und inmitten dieser Trümmer saß zu diesem Zeitpunkt, wenige Minuten nach dem Unglück, ein einzelner Helfer mit einer blutenden Frau im Arm. Er schrie uns zu, wir sollten runter kommen, es wären viel Verletzte dort unten. Neben mir an der Kante stand ein Mann aus der Nachbarschaft, wir kletterten auf der schiefen Fahrbahn nach unten. Nach wenigen Metern lag vor mir eine verletzte Frau, sie war ansprechbar, wimmerte. Ihr Gesicht war mit ganz feinen Glassplittern übersät. Ich sprach kurz mit der Frau, sagte ihr, dass Hilfe unterwegs sei und kletterte dann weiter. Es war ein unvorstellbares Chaos aus Zugtrümmern, Gepäckstücken und zwischendrin Menschen. In den Trümmern saß eingeklemmt auf einem Sitz ein junger Mann, die Beine unnatürlich vor der Brust. Ich versuchte ihn zu befreien, was nicht möglich war, da ein großes Teil der weißen Waggonaußenhaut den Weg versperrte.

Zu diesem Zeitpunkt tauchten oben an der Brückenkante die ersten Escheder Feuerwehrleute auf. Genauso fassungslos hatte ich wenige Minuten vorher auf die Szene heruntergeschaut. Sie kamen dann runter und kümmerten sich um den jungen Mann. Ich ging zurück zu der Frau, hielt ihr die Hand und sprach mit ihr. Ich hatte das Gefühl, dass ihre Kräfte sie verließen. Von diesem Platz aus waren mehrere Tote in den Trümmern zu erkennen. Aus den Funkgeräten der Feuerwehrleute war zu hören, dass ständig weitere Helfer alarmiert wurden. Bald tauchten auch erste Sanitäter, in dem Bereich in dem ich hockte, wurden den ersten Verletzten Infusionen angelegt. Bald wurden auch die ersten Tragen heruntergereicht, ich half dann mit, vier oder fünf Verletzte die schiefe Ebene bis zur Brückenkante hochzutragen, wo andere Helfen sie uns dann abnahmen. Irgendjemand hatte ein Seil gespannt, an dem man sich mit einer Hand festhalten konnte. Über uns waren zu diesem Zeitpunkt schon Hubschrauber in der Luft, von überall her waren Martinshörner von Feuerwehr und Rettungswagen zu hören.

Ich weiß nicht, wie spät es war, als ich diesen Bereich verließ. Ich stieg dann über das Brückengeländer und kletterte eine Leiter herunter auf die Schienen. Hierbei half ich auch einem Pastor, der zur Unglücksstelle geeilt war. Wohl zu diesem Zeitpunkt habe ich erst gesehen, dass in Richtung Bahnhof auch noch Waggons standen und lagen. Allerdings habe ich keine Einzelheiten registriert.

Ich stieg über eine herunterhängende Oberleitung und traf dann meinen Kollegen von der Zeitung, mir fiel auf, wie bleich er war. Ich sprach auch kurz mit einigen Feuerwehrleuten, die ich kannte. Von der anderen Brückenseite aus verschaffte ich mir einen weiteren Überblick. Zu diesem Zeitpunkt war eine unüberschaubare Zahl von Feuerwehrleuten an und auf den Trümmern und versuchte, in die zertrümmerten Waggons einzudringen. Ich ging dann hinter den hinteren Triebkopf des Zuges entlang. Hier fiel mir auf, dass die Schienen von den Schwellen gerissen waren, die Schwellen waren wie pulverisiert. Hier sprach mich ein Beamter des Bundesgrenzschutzes an und sagte, dass die zivilen Helfer jetzt die Unglückstelle zu verlassen hätten, da genügend professionelle Helfer vor Ort seien. Nur wenige Meter weiter drückte mir jemand den Griff einer Trage in die Hand, auf der eine junge verletzte Frau lag, wir brachten sie in das Fabrikgebäude neben der Straße, das als Notlazarett eingerichtet worden war. Hier wurde sie uns von anderen Helfern sofort abgenommen, die sich um sie kümmerten. Vor dem Gebäude wurden die leichter Verletzten verarztet. Als ich noch einmal an den aufgetürmten Trümmern vorbeikam, stieg gerade ein Mann eine Leiter herunter, der kaum verletzt zu sein schien. Auch ihn begleitete ich bis zu den Notärzten.

Als ich zu meinem Auto ging, kamen mir im Laufschritt noch weitere Helfer einer Berufsfeuerwehr entgegen. Ich mußte einen kleinen Umweg fahren, als ich wieder auf die Rebberlaher Straße fuhr, standen dort mehrere Fahrzeugen von Beerdigungsunternehmen hintereinander. Das veranschaulichte schlagartig das Ausmaß des Unglücks. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht vermuten können, wie viele Tote und Verletzte es am Ende sein würden.

Von zu Hause aus rief ich meine Zeitung an und schrieb dann einen ersten Bericht für eine Sonderausgabe der Celleschen Zeitung. Bald begannen auch die Anfragen anderer Zeitungen, Rundfunk und Fernsehanstalten, die alle einen Augenzeugenbericht von der Unglücksstelle haben wollten. Gegen 16 Uhr habe ich meinen Bericht nach Celle übertragen und dann den Rest des Nachmittags für alle möglichen Medien am Telefon gearbeitet. Am Abend habe ich dann am Escheder Bahnhof für das Fernsehen mehrere Interviews gegeben und selber weitere Informationen gesammelt. Zwischendurch habe ich zu Hause meinen Bericht überarbeitet. Gegen Mitternacht war ich in Celle bei meiner Zeitung, gegen zwei Uhr Nachts lag ich im Bett. Geschlafen habe ich nicht, denn die Bilder vom Unglück gingen mir durch den Kopf. Außerdem war draußen auf der Straße viel Verkehr, weil unzählige Medienvertreter zwischen Bahnhof und Einsatzzentrale in der Dorfmitte hin und her pendelten.

Gegen fünf Uhr stand ich wieder auf. Bald war ich wieder am Bahnhof, sah aus der Ferne zu den anhaltenden Rettungsarbeiten. Im Laufe dieses und der nächsten Tage habe ich für meine Zeitung Pressekonferenzen besucht und einiges geschrieben.

Und natürlich beschäftigt mich auch heute noch das Zugunglück und seine Folgen. Das bringt einerseits der Beruf mit sich. Zum Jahrestag hatte ich mit einer Frau, die im Zug gesessen hat, ein langes Interview geführt. Es war ein Gespräch, das mich sehr beeindruckt hat. Kürzlich habe ich über den Brückenneubau geschrieben, der seit einigen Wochen in Gange ist. Auch über das Denkmal, das neben der neuen Brücke errichtet werden soll, habe ich einige Artikel verfasst, und es kommen wohl noch einige dazu. Zum anderen setze ich mich mit der ICE-Katastrophe auseinander, weil ich damals an der Unglücksstelle war. Die Eindrücke verblassen, aber wohl kaum ein Helfer wird sie ganz vergessen können. Für viele Menschen ist das ein Einschnitt im Leben gewesen, der sie verändert hat, wenn auch nur ein bisschen. Was mich persönlich angeht, so bin ich mit der Bahn eigentlich groß geworden: Mein Vater hat als Schrankenwärter viele Jahre genau an der Stelle gearbeitet, an der dann die Brücke gebaut wurde, die beim Unglück zerstört wurde. Mir ist also die Unglücksstelle seit Jahrzehnten vertraut.

Eigentlich könnte ich noch viel mehr schreiben, aber da Ihr nur eine Seite haben wollt, müsst ihr jetzt schon kürzen. Wenn Ihr Fragen habt, ruft mich an, vielleicht auch bei der Zeitung.

Für Eure Arbeit wünsche ich Euch alles Gute und viele Grüße aus Eschede!


 

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