geb. 1933
nach Flucht und Vertreibung aus Ostbrandenburg
seit 1946 in Görlitz / Niederschlesien
erscheint heute in den Medien und vor allem in der tagespolitischen Polemik als symbolisch für die gesellschaftliche Wirklichkeit und für den Zusammenbruch der DDR. Tatsächlich bedeutete dieser Tag für die Berliner und für die Bevölkerung der DDR einen der folgenschwersten Einschnitte in der Nachkriegsgeschichte. Für eine ganze Generation zerrissen familiäre Verbindungen, die sich bis dahin trotz aller Kriegsverluste erhalten hatten. Für den Einzelnen wurden Reisemöglichkeiten, Freizügigkeit und Informationsfreiheit hoffnungslos eingeschränkt. Man war in ein "Tal der Ahnungslosen" geraten.
Dennoch kam die Mauer nicht aus heiterem Himmel. Seit 1945 hatten die Besatzungsmächte ihre Einflußbereiche in Deutschland nach ihren Gesellschaftsmodellen gestaltet und damit das Land längst gespalten. Die USA verschärften ihren Druck gegen den sowjetischen Machtbereich. Aus eigenem Erleben weiß ich, wie seinerzeit Westberlin zum "Pfahl im Fleisch der DDR" und damit zu einem Konfliktherd ausgebaut wurde. Bis 1961 gingen zwei Millionen Menschen aus der DDR in den Westen - Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter, Bauern, Künstler, Abiturienten. Übergeordnete strategische Interessen der NATO kalkulierten dieses Ausbluten der DDR mit ein.
Nach dem Schock vom 13.August und dem heftigen Propagandakrieg unmittelbar danach beruhigte sich das politische Klima in Mitteleuropa. Auch in der DDR kam es zu einem sichtbaren wirtschaftlichen Aufschwung. Die Leute hatten Arbeit und ihr Auskommen, die Schulabgänger eine ordentliche Grundlagenbildung und eine Lehrstelle. Überall entstanden Neubauviertel. Im Kulturleben gab es trotz kleinlicher Zensur beachtliche Leistungen. In die Außenpolitik kam Bewegung. Die verfeindeten Seiten gingen aufeinander zu. Kompromisse sollten Annäherung und Abrüstung fördern. Später fand dieser Weg eine Krönung mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Unvoreingenommen betrachtet, waren alle bitteren Opfer und menschlichen Belastungen durch 28 Jahre Berliner Mauer geringer als das Inferno eines III. Weltkrieges, der sich vor allem auf deutschem Boden ausgetobt hätte. Und die Befürchtungen von 1961, welche nachteiligen Folgen die Ausdehnung des US-amerikanischen Systems nach Osten haben könnte, wurden nach 1990 nicht widerlegt.
Ernst Kretzschmar
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