Dr. Anneliese Poppinga

Dr. Anneliese Poppinga - hier in einer Sendung des WDR - war seit 1958 Adenauers Chefsekretärin. Sie lebt heute in Bad Honnef. Sie hat ihre Erinnerungen an die Arbeit mit Konrad Adenauer in mehreren Büchern festgehalten.

Für uns hat sie ihre Erinnerungen an das Jahr 1967 aufgeschrieben.

Da der Text ziemlich lang ist, empfiehlt sich ein Ausdruck, um das anstrengende Lesen am Bildschirm zu umgehen.
 

Dr. Anneliese Poppinga
Petersbergstr. 2
53604 Bad Honnef
23.1.2000

Zu Beginn des Jahres 1967 wurde Konrad Adenauer von schweren Sorgen um die Zukunft Europas und damit auch um die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland bedrückt. Sorgen, die ihn seit seinem Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers am 15. Oktober 1963 - wenn auch mal stärker, mal schwächer - belasteten und ihn wohl nie verließen.

Als er sein Amt niedergelegt hatte, konnte er auf eine erfolgreiche Arbeit zurückblicken. In den Jahren seiner Kanzlerschaft (1949-1963) waren tragfähige Fundamente gelegt worden, auf denen die Bundesrepublik auch heute noch steht. Beispielhaft möchte ich hinweisen auf die Wahrung der Freiheit des westlichen Teiles Deutschlands und West-Berlins gegenüber dem übermächtigen Druck der Sowjetunion; auf die Rückgewinnung von Vertrauen zu uns Deutschen; auf den wachsenden Wohlstand bei gleichzeitiger Lösung schwerer sozialer Probleme wie zum Beispiel Schaffung von Arbeitsplätzen für über zwei Millionen Arbeitslose; auf die Eingliederung von sieben Millionen Deutschen aus den Gebieten jenseits der Oder-Neisse; auf die Versorgung der Kriegsversehrten und Kriegshinterbliebenen; auf den bereits im September 1952 gelungenen Brückenschlag zum jüdischen Volk über den wohl tiefsten Abgrund, der durch Unmenschlichkeit verschuldet worden war; auf das Heranwachsen einer engeren Partnerschaft mit den USA; auf die Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes; auf die entscheidenden Fortschritte in Richtung auf die Einheit Europas. Und hinweisen möchte ich darauf, dass für die Überwindung der Spaltung Deutschlands wichtige Weichenstellungen erfolgten durch den 1955 in Kraft getretenen Deutschlandvertrag, in dem die völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung Frankreichs, Großbritanniens und der USA für die Erreichung dieses Zieles auf friedlichem Wege festgelegt worden war.

Die schweren Sorgen Konrad Adenauers zu Beginn des Jahres 1967, auf die ich eingangs hinwies, hatten ihre Ursache in Verhandlungen , die in Moskau zwischen der Sowjetunion und den USA über den Abschluss eines Atomsperrvertrages geführt wurden. Verhandlungen, so sah es Konrad Adenauer, die über die Interessen der europäischen Staaten hinwegzugehen schienen. Aus seiner Sicht lag die Bedeutung dieses Vertrages nicht in erster Linie in seinen militärischen Konsequenzen, sondern in seinen wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen. Man müsse in die Zukunft sehen und sich vorstellen, so Adenauer, welche enormen Veränderungen und Umwälzungen in den nächsten Jahrzehnten durch die friedliche Nutzung der Atomenergie für die Wirtschaft heraufkommen würden. Und durch diesen Vertrag in seinem jetzigen Verhandlungsstadium würden nach seiner Überzeugung in entscheidender Weise die Weichen für die künftige industrielle und damit wirtschaftliche, aber auch für die politische Entwicklung gestellt. Er befürchtete, dass künftig jegliche Eigenständigkeit Europas zwischen den beiden Supermächten Sowjetunion und USA schon im Keim zermalmt würde. Chancen, dass die europäischen Staaten je in die Lage kämen, ihre Interessen selbst wahren zu können, würden immer geringer werden.

In dieser Situation war für Konrad Adenauer eine seit längerem geplante Reise nach Spanien, die für Mitte Februar 1967 vereinbart worden war, eine willkommene Gelegenheit , in einem Vortrag in Madrid zu dem Thema "Europa und die Entwicklung in der Welt" den Europäern drastisch die Gefahren vor Augen zu führen und einen Appell an die Vernunft zu richten mit dem Ziel, endlich wesentliche Fortschritte in Richtung auf die politische Einheit Europas zu erreichen.

Eigentlich wäre aus Gesundheitsgründen Veranlassung gewesen, die Reise zu verschieben. Konrad Adenauer litt unter einer sich schon seit längerer Zeit hinschleppenden Bronchitis. Seine Ärztin beschwor ihn, die Reise nach Madrid aufzugeben. Die einzige Konzession, die er ihr machte, bestand darin, dass er seine Gastgeber bitten wollte, das Besuchsprogramm nicht zu überfrachten. "Denn schließlich bin ich nicht mehr 80!" Am 5. Januar 1967 war er 91 Jahre alt geworden.

Auch ich versuchte, ihn von der Reise abzuhalten. Ich sprach die Warnung aus, er könne durch diese Reise angesichts seiner augenblicklichen Beschwerden die Fertigstellung seiner Memoiren gefährden. Ich stellte dje Frage : Stünde er vor der Alternative, entweder Abschluss seiner Memoiren oder aber Reise nach Spanien - wie würde seine Antwort lauten? Er zögerte keinen Augenblick. Mit Entschiedenheit erklärte er: "Die Reise geht vor. Europa ist in so unendlich großer Gefahr, und die Menschen erkennen es nicht." Er halte es für seine Pflicht, die Menschen aufzurütteln und ihnen die Augen vor den Gefahren zu öffnen.

Konrad Adenauer blieb bei seinem Entschluss. Am 16. Februa.r 1967 hielt er im Madrider "Ateneo" in Anwesenheit einer sehr prominenten Zuhörerschaft, zu der unter anderen auch der spätere König von Spanien Juan Carlos und dessen Frau Sophia gehörten, eine weltweit stark beachtete Rede. Unvergesslich ist mir sein leidenschaftlich vorgetragenes Schlusswort: "In unserer Epoche dreht sich das Rad der Geschichte mit ungeheurer Schnelligkeit", so warnte er. "Wenn der politische Einfluss der europäischen Länder weiterbestehen soll, muss gehandelt werden. Wenn nicht gleich die bestmögliche Lösung erreicht werden kann, so muss man eben die zweit- oder drittbeste nehmen. Wenn nicht alle mittun, dann sollen die handeln, die dazu bereit sind ... Handeln, Anfangen ist die Hauptsache! " Auf dem Rückflug nach Deutschland wurde die Reise in Paris unterbrochen. Der Aufenthalt dort brachte die letzte Begegnung Konrad Adenauers mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle.

Charles de Gaulle gab zu Ehren Konrad Adenauers ein Essen im Palais de l'Elysee. Auch ich nahm daran teil. Es war ein unvergessliches Erlebnis für mich.

Die Tischrede de Gaulles brachte die enge Verbundenheit zwischen diesen beiden großen Staatsmännern zum Ausdruck. De Gaulle erklärte hierin zu Beginn, wie glücklich und geehrt er durch den Besuch des Freundes sei. Er wies bewundernd auf dessen politischen Erfolge hin und sprach von der deutsch-französischen Zusammenarbeit, die für ganz Europa eine wesentliche Bedingung des Fortschrittes, der Unabhängigkeit und des Friedens sei. "Von diesem Werk kann man sagen", so hörte ich ihn, "dass sein erstes Ziel und sein wichtigstes Resultat darin besteht, dass Deutschland und Frankreich dank einem außergewöhnlichen Sieg des gesunden Menschenverstandes ihre lange und sterile Feindschaft von einst durch eine freundschaftliche und aktive Zusammenarbeit ersetzt haben." De Gaulle sprach die Sätze langsam, mit Würde und Wärme, mit großartiger Betonung jedes einzelnen Wortes.

In seiner improvisierten, sehr herzlich gehaltenen Erwiderung dankte Konrad Adenauer. Es schwang etwas im Atmosphärischen, das man schwer in Worte fassen kann. Der Wortlaut der beiden Reden kann es nicht wiedergeben. Man musste es einfach erlebt haben. Konrad Adenauer traf es am nächsten, indem er davon sprach, dass jedes Mal, wenn er ins Palais de l'Elysee käme, es ihm fast so wäre, als käme er nach Hause.

Bei der Verabschiedung begleitete de Gaulle seinen Gast bis zum Portal des Palais des Palais de l'Elysee. Barhäuptig stand er dort bei eisigem Wind, während der Wagen Konrad Adenauers den Vorhof des Palais verließ. Eine außergewöhnliche Geste. Und Staatspräsident de Gaulle pflegte sehr sparsam mit derartigen Gesten zu sein.

Die Madrider Rede Konrad Adenauers fand die von ihm erhoffte Aufmerksamkeit. Sein Einsatz war nicht vergeblich gewesen. Folgen auf den weiteren Verlauf der Moskauer Verhandlungen waren zu erkennen.

Aber wie stand es um die Fertigstellung der Memoiren ?

Nach seiner Rückkehr widmete sich Konrad Adenauer wieder dieser Arbeit, soweit seine politischen Aktivitäten ihm hierzu Zeit ließen. Es war kurz vor seinem Tod, als er mir erklärte: "Ich fühle das Schreiben dieser Memoiren als eine moralische Verpflichtung. Ich muss zeigen, in welch einen Abgrund wir gestürzt waren, und ich muss zeigen, wie unsäglich schwer es war, aufzubauen, was wir heute haben und was so viele für selbstverständlich hinnehmen. Ich muss auch zeigen, wie gefährdet doch noch alles ist. Es ist wichtig, dass ich fertig werde. Aber die Fülle der Arbeit, die noch vor mir liegt! Wann und wie soll ich es schaffen?"

Es war ein Wettlauf mit der ihm verbliebenen Zeit, er konnte ihn nicht gewinnen. Dennoch war erstaunlich, was er in den nur dreieinhalb Jahren seit seinem Rücktritt bis zu seinem Tod am 19. April 1967 zum Abschluss brachte: Es war ein dreibändiges Werk über die Jahre 1949 bis 1959, der vierte Band über die Jahre 1959 bis 1963 blieb fragmentarisch.

In den Wochen nach der Rückkehr aus Spanien hörte ich auch viele Bemerkungen über den Verlauf unserer jüngsten Geschichte. Es waren Bemerkungen allgemeiner Art zur Situation des deutschen Volkes. So erklärte er mir zum Beispiel: "Was hat das deutsche Volk seit Beginn dieses Jahrhunderts über sich hinweggehen sehen und ertragen müssen. Zu viel Hin und Her in zu kurzer Zeit. Zwei verlorene Kriege, alles zerstört und dann auf einmal dick voll Geld. Was für Sprünge! Verfall von Tradition, Verfall von Autorität, Verfall der geistigen Werte. Wie in aller Welt sollen derartige Sprünge und Risse in kürzester Zeit überwunden sein ? Und vor allem die schreckliche Zeit des Nationalsozialismus. Sie bedeutet doch für das deutsche Volk einen sehr schweren Bruch, der nicht von heute auf morgen völlig verschwindet." Nach einer Pause griff er seine Gedanken wieder auf und fuhr fort, man müsse die Nachwirkungen aus dieser Zeit für das deutsche Volk klar sehen. Er sei aber der Auffassung, dass die Fehler einer Epoche, auch wenn sie noch so schwer gewesen seien, nicht all das, was in vergangenen Jahrhunderten an Großem geleistet worden sei, null und nichtig machen könne. Man müsse dem, was unter Hitler gewesen sei, ins Auge blicken. Man müsse klar sehen, welche Ungeheuerlichkeiten in dieser Zeit geschehen seien, damit man erkenne, wie tief die Menschen sinken könnten, wenn der Politik das ethische Fundament genommen sei. "Es muss aus dieser schrecklichen Zeit die Lehre gezogen werden und die Erkenntnis, dass die Freiheit, die persönliche Freiheit, das kostbarste im Menschenleben ist."

Bei anderer Gelegenheit hörte ich von ihm, das rechte Maß, das sei es, was er dem deutschen Volk wünsche, und Stetigkeit im politischen und wirtschaftlichen Leben. Nachdenklich schaute er Vor sich hin. "Ein Volk muss stetig sein", fuhr er fort. "Ein unstetes Volk, ein Volk, dessen Politik hin- und herschwankt, steht allein da, es ist kein Verlass auf dieses Volk, es hat keine Freunde . Und wir, unser Volk, wir in unserer schwierigen Lage, wir brauchen Freunde in der Welt , sonst sind wir verloren."

Anmerkung:
Die in diesem Artikel wiedergegebenen Vorgänge und Zitate hebe ich ausführlich beschrieben in meinem Buch: "Meine Erinnerungen an Konrad Adenauer", erschienen 1970 in der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart; jetzt noch erhältlich als Taschenbuch bei Lübbe - Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe Nr. 65073/980.
 

Anfang der Seite