Gerd Hieronimus
Wirklich ein ganz normaler Tag? - Wie jeden Morgen wurde ich von einem kleinen rappelnden Ungeheuer gegen 7.15 Uhr geweckt.
Wie jeden Morgen lief alles ganz hektisch, jedoch ohne große Probleme ab: - mit schweren Augen aufstehen, frühstücken, Toilettenbesuch, anziehen usw.. Mit dem Schulgong kamen wir, wie immer, so eben pünktlich zum Unterricht. Wir, das waren die Jungen der 13. Klasse unseres kleinen Gymnasiums in einem Vorort Bochums.
Doch irgend etwas war anders als sonst. Wir gingen nicht wie üblich direkt in unsere Klasse um die restlichen Hausaufgaben zu vervollständigen (nette Schüler, die alles zu Hause machten, gab es damals auch schon). Wir setzten uns nicht zu unserem Tischnachbarn, um mit ihm auszutauschen, was man(n) am gestrigen Abend so alles mit seiner Freundin veranstaltet hatte, oder auch nicht. Wir sprachen nicht über die nächsten Klassenarbeiten oder unsere Abschlussfahrt nach Berlin. Nein, es gab nur ein Thema: Heute war der Tag, an dem Franz Josef Strauß nach Bochum in die Ruhrlandhalle kam. Franz Josef Strauß, eine Granate von einem Mann, ein bayerischer Vollblutpolitiker, ein Urgestein der deutschen Nachkriegspolitik.
Franz Josef Strauß
Wieso war dieser Strauß-Besuch so interessant, so wichtig, wo doch Hunderte von Politikern Tausende von Wahlkampfauftritten in der BRD hatten.
Nein, dieser Strauß war 'was Besonderes.
Er war unter Bundeskanzler Adenauer Verteidigungsminister und musste wegen der Spiegel-Affäre zurücktreten, war danach aber noch in anderen Ministerämtern.
1967 hatte es einen gravierenden Umbruch in der deutschen Politik gegeben, es gab die sog. "Große Koalition".
Nach 18-jähriger Regierungszeit von CDU-geführten Regierungen unter Adenauer und Erhard gab es nun eine Koalition zwischen CDU/CSU und SPD mit Kanzler Kiesinger (CDU) und Vizekanzler Brandt (SPD): Die Opposition verblieb bei der "kleinen "FDP. Man muss sich das einmal vorstellen: ca. 90% Regierung und nur 10% Opposition. So bildete sich ziemlich schnell eine außerparlamentarische Opposition, die sog. APO, angeführt von linken Studenten der deutschen Universitäten. Diese hatten Missstände in der bundesdeutschen Gesellschaft ausgemacht und bei Demonstrationen massiv dagegen protestiert. Wir Abiturienten waren nun kurz davor auch Studenten zu werden. Aber was hatte F.J. Strauß damit zu tun?
Strauß hatte in einem Gespräch / Interview zu den Studentenunruhen dem Sinne nach folgendes gesagt: "Studenten benehmen sich wie Tiere, also sollten sie auch wie Tiere behandelt werden!" Dass in der Politik oder im Eifer des Gefechts schon 'mal Kraftausdrücke fallen und Beleidigungen an der Tagesordnung sind, kann sich jeder denken, aber Menschen wie Tiere behandeln?! Man stelle sich vor: eine Fliege abklatschen, eine Ratte vergiften, ein Schwein schlachten. Wir wussten, er hatte nicht gemeint: eine Katze streicheln, ein Meerschweinchen füttern oder den Wellensittich fliegen lassen. Und diese Aussage von einem in der Öffentlichkeit stehenden, in aller Welt bekannten Politiker.
Der Morgen verlief dann doch relativ normal. Nachmittags trafen wir uns, um gemeinsam zum Strauß-Auftritt zur Ruhrlandhalle zu gehen. Auf dem Weg dorthin überlegten wir, wie wir ihn dazu bringen könnten, seine Äußerungen zu begründen. Schließlich waren wir ja in Diskussionen geübt und in Provokationen erfahren.
Doch es kam alles anders als erwartet. Bekleidet in der Einheitskleidung aller Schüler und Studenten, nämlich Jeans, Turnschuhe und Parka, kamen wir unserem Ziel Ruhrlandhalle immer näher. Aus allen Teilen Bochums waren Tausende Richtung Ruhrlandhalle unterwegs. Wie bei hohem Politikerbesuch üblich gab es ein Großaufgebot an Polizei. Als wir nur noch wenige Hundert Meter vom Veranstaltungsort entfernt waren, sahen wir, dass die ganze Umgebung der Halle von Polizisten, Polizeifahrzeugen und Wasserwerfern abgeriegelt war. Auf den Zugangswegen wurden alle "normal" gekleideten Besucher mehrmals kontrolliert und nur diejenigen durften in die Halle, die eine Einladungskarte vorweisen konnten. Wir waren nicht "normal" gekleidet und hatten keine Einladung. Außerdem erweckten wir nicht den Anschein, als würden wir lieb und brav auf Herrn Strauß warten und seiner Rede lauschen.
Sauer, empört und enttäuscht versammelten wir uns auf der Wiese vor der Halle und schrien unseren Frust hinaus. Doch nicht lange. Innerhalb kürzester Zeit drehten die Wasserwerfer Richtung Demonstranten und fuhren in Stellung.
Und dann ging's los. Ein Wasserschwall schlimmer als ein Wolkenbruch ging auf uns nieder und innerhalb von Sekunden waren wir bis auf die Haut nass.
Der Druck des Wassers war so groß, dass viele auf die nun schlammige Wiese fielen und sich im Dreck wälzten. Wir sahen aus wie die Schweine. Nach wenigen Minuten gaben wir auf und räumten das Feld. Wie begossene Pudel machten wir uns auf den Weg nach Hause. Frustriert und demoralisiert hatten wir vor der staatlichen Gewalt kapituliert. Viele von uns waren jedoch nun noch offener für linke Parolen und außerparlamentarische Opposition.
Dieser ganz "normale" Tag blieb uns für immer in Erinnerung.
(C)Ludgerusschule Heiden