Hans-Dietrich Genscher

"Erinnerungen"
Siedler Verlag, Berlin, 1995
Taschenbuchausgabe
Goldmann Verlag, 1997

"Das Münchener Geiseldrama bei den Olympischen Spielen 1972

Die schrecklichste Erfahrung meiner ganzen Amtszeit als Mitglied der Bundesregierung war die Ermordung der israelischen Sportler beim Überfall auf die israelische Olympia-Mannschaft 1972 in München.

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Dann begannen, heiter und beschwingt, die Olympischen Spiele. Unser Land präsentierte sich der Welt auf beeindruckend unbeschwerte Weise. Der Kontrast zum nationalsozialistischen Deutschland der Olympischen Spiele von 1936 war groß. Doch plötzlich wurden wir aus dieser Unbeschwertheit herausgerissen. Am 2. September 1972, kurz nach 6 Uhr, erhielt ich einen Anruf: Auf die Unterkunft der israelischen Sportler im Olympischen Dorf, Conolly-Straße 31, sei ein Angriff unternommen worden. Auch sei es zu Geiselnahmen gekommen.

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Die israelische Regierung ließ von Anfang an keinen Zweifel an ihrer Haltung: Die Freilassung aller oder auch nur eines Teils der Gefangenen, deren Herausgabe die Terroristen verlangten, kam für sie nicht in Frage.

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Der Anführer der Geiselnehmer, mit dem Dr. Merk und ich unsere Gespräche führten, trug einen weißen Anzug, der von vielen Bildern bekannt ist. In den Brusttaschen links und rechts hatte er je eine Handgranate, die Abzugsriemen hingen herab. Eine weitere Granate hatte er abzugsbereit in der Hand. Er machte einen außerordentlich entschlossenen, aber auch ruhigen Eindruck.

Ich bemühte mich, ihn zu überzeugen, daß es auch nicht im Interesse der Inhaftierten liegen könne, unschuldige und gänzlich unbeteiligte Menschen zu töten. Ich appellierte an sein Gewissen und an seine persönliche Verantwortung. Auf diese Weise suchte ich ihn von der Ausführung seiner Drohungen abzubringen. Er schüttelte den Kopf: Auf solche Gespräche könne er sich nicht einlassen. Wörtlich sagte er: »Ich bin Soldat. Ich handle ausschließlich auf Befehl. Ich muß meine Befehle ausführen, und ich werde es tun.« Was mag er empfunden, was gedacht haben ? Konnte er wissen, was es für uns als Deutsche bedeutete, daß ausgerechnet hier wieder Juden in Todesnot waren? Mord an Juden in Deutschland -1972! Der Gedanke schnürte mir die Kehle zu.

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In Sorge um die angsterfüllten, bangenden und hoffnenden Menschen in der Hand der Terroristen, empfand ich stärker als je zuvor die ganze Last unserer Geschichte gegenüber Israel und dem jüdischen Volk. Siebenundzwanzig Jahre waren seit 1945 vergangen, und wieder sollten Juden in Deutschland ermordet werden. Wie oft hatten wir uns gefragt, wie es zu einer Entwicklung in Deutschland hatte kommen können, die zu den Nürnberger Gesetzen, zur Terrornacht vom 9. November 1938, zum Judenstern, zur Wannseekonferenz und zu Auschwitz führte!

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Zusammen betraten wir das Haus, stiegen die Treppe hinauf. Im Gang des oberen Stockwerks standen Palästinenser, mit Maschinenpistolen bewaffnet. Die Tür am Ende des Ganges wurde geöffnet: In einem kleinen Raum, in dem an der rechten und linken Wand je ein Bett stand, saßen die Geiseln. Zwischen ihnen lag ein Toter bedeckt mit einem Bettlaken. Ich stellte mich als der deutsche Innenminister vor und sagte, daß wir uns in Gesprächen mit arabischen Regierungen und mit der israelischen Regierung um eine Lösung bemühten.

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Das Bild der Menschen, die auf den Betten saßen und mich hoffnungsvoll ansahen, wird mich nie mehr verlassen. Sie sprachen mit großer Erwartung, aber auch mit großem Ernst; sie schienen gefaßt. Während des Gesprächs standen zwei der Geiselnehmer mit Maschinenpistolen hinter mir.

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... der Ort für den Befreiungsversuch war von der Polizei bestimmt worden, nachdem man die Möglichkeit einer Aktion in dem Haus, in dem die israelischen Sportler untergebracht waren, ebenso ausgeschlossen hatte wie auf dem Weg von dort zu den Bussen oder weiter zum Flugplatz.

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Als die Polizeiaktion begann, richteten die Angehörigen des Terrorkommandos ihre Waffen nicht nur gegen deutsche Polizeibeamte, sondern auch gegen ihre Geiseln, und mehrere Menschen mußten sterben.

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Erst in den Morgenstunden kam ich ins Hotel zurück. Meine Frau empfing mich ohne viele Worte; fragend sah sie mich an und fragte doch nicht. Sie hörte zu, während aus mir, zunächst noch zögernd, all das herausbrach, was mich in dieser Stunde der Verzweiflung und Enttäuschung, des Schmerzes und der Trauer bewegte. ..."
 

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