Tragödie im Schnee


von Brigitte Hieronimus

"Autofreier Sonntag fordert erstes tragisches Opfer - Blutjunge Mutter mit Baby im Auto erfroren....." "Grausamer sibirischer Wintereinbruch mitten im Vogelsbergkreis - der weiße Tod holte sich eine einsame junge Mutter mit ihrem Kind - die offensichtlich trotz Fahrverbotes über Nebenstraßen die Kreisstadt Fulda erreichen wollte ... ."

Meine Phantasie kannte keine Grenzen, als ich im Winter 74/75 mutterseelenallein mit meiner knapp 2-jährigen Tochter tatsächlich in unserem bislang sehr zuverlässigen VW Käfer - Farbe Schneegrau - festsaß. Nichts ging mehr. Kein Vor - und kein Zurück! - Und mein Göttergatte weit weg. Hilfe holend ... .

Was war geschehen? Nun - während der großen Ölkrise, die in Deutschen Landen, wie zu erwarten, panikartige Reaktionen hervorrief, wie: "Hilfe - wie kommen wir hier nur fort - gibt es außer Rädern etwa auch mal Beine?" Oder: "Was tun mit einem autofreien Sonntag - etwa wieder sich mit sich selbst beschäftigen?" Trotzdem gab es auch Menschen die ganz normal reagierten. So wie ich! Ich mußte nämlich arbeiten. Mein Handicap bestand lediglich darin, dass ich mal keinen Führerschein besaß. Gutgläubig wie ich es in diesen jungen Jahren mal war, glaubte ich, diesen nie zu brauchen. Weil - ich hatte ja einen liebenden Ehemann, der bis dato nicht nur Wünsche erfüllte, sondern auch bereit war, Opfer zu bringen. Indem er mich nämlich an diesem frostklirrenden Wintermorgen zu meinem ca. 50 km entfernt liegenden Arbeitsort brachte. Sonst fuhr ich immer mit Nachbarn mit - es gab auch da schon Fahrgemeinschaften!

Aber an diesem Sonntagmorgen war ich die Einzige aus unserem Zwergenort, die eine Fahrerlaubnis hatte. Wir wohnten damals in Hessen, genauer im Vogelsbergkreis, der bekannt war für sibirische Verhältnisse, rauhes Klima und so .... Doch als frisch gebackenes Ehepaar mit Schnuckelbaby zog es uns aus mehreren guten Gründen dort hin: Hessen war das erste Bundesland, das versprach alle Lehramtsreferendare auch einzustellen, und - wir waren weit genug fort von den "Elterlichen Autoritäten". - Schließlich waren wir ja die 68er Generation! Und aus diesem Grunde gehörte es sich auch, Mutterschaft & Beruf als geglückten Balanceakt hinzubekommen. Ich arbeitete in einem Kinderheim in Fulda, der Bischofsstadt. Und dort wurde auch am Sonntag gearbeitet. Warum auch nicht? Arbeit schändet nicht, oder?

So saßen wir Drei - glückliches Trio- in unserem Käfer und fuhren los. Die Sonne schien. Der Schnee glitzerte. Das Schnuckelbaby schlummerte friedlich mit rotem Nikolaus- Kapuzen- Mäntelchen hinten auf dem Römer- Kindersitz ..... Doch zusehends verengten sich die Straßen. Zwischen uns - vor uns - hinter uns - unendliche Weiten - nichts als Weiß - wo vormals Markierungen auf der Straße waren - jetzt nichts mehr davon zu sehen - nur einsame Stangen am Straßenrand - hie und da .... Kein Laut weit und breit. Der Himmel ergraute. Wolken kraulten sich den Buckel .... Plötzlich ein erstes Rutschen.

Meine Finger gruben sich in des Liebsten Oberschenkel. Er indessen, mit energischem Kinn, kurbelte und rotierte, was der Käfer verzweifelt hergab. Ahnungslos glaubte ich mal: "Hätten wir den netten Käfer nicht doch mal zur Inspektion bringen sollen?" Und während ich noch grübelte - mein Schatz neben mir schaltete und waltete - mein anderer Schatz hinter mir schmatzte und nuckelte - passierte es fast lautlos .... Wir saßen fest!

Eine riesige Schneewehe - der Himmel jetzt bleischwer. Wind erhob sich. Schneemassen türmten sich meterhoch. Was nun? Unsere Augen trafen sich. Abschied. Das Ende? Tapfer umarmten wir uns - beruhigten unsere klopfenden Herzen .... So begab sich die Frau ergeben ins Schicksal. Einer musste schließlich beim Kind bleiben. Der Mann indessen begab sich ins feindliche Leben. Mutig stapfte er von dannen .... Hatte ich ihm auch alles gesagt? Seine Spur verlor sich .... Zugeweht die männlichen Schritte.

Allmählich erwachte unser Kind. Blauäugig registrierte es den Winter. Quäkte nach Mama. Ich nahm es nach vorn - wir schmiegten uns aneinander - ich summte leise - dachte an all die glücklichen Stunden, die mir dieses Kind schon geschenkt hatte - erinnerte mich an den Tag, als ich ihren "Erzeuger" das erste Mal "witterte": auch im Winter - im Jahre 1969 - auch damals Chaos auf den Straßen, sämtliche Verkehrsnetze brachen zusammen - Winterzeit ist eben in Deutschen Landen so selten vorgesehen. Im Winter entscheidet sich das Schicksal immer für mich - oder gegen mich? Jedenfalls damals, im Winter 69, entflammten wir füreinander - jeglicher Schnee schmolz unter unseren Füßen ....

Und jetzt quengelte mein Kind, und ich holte mich zurück in diesen Winter. Es wollte sich aus Mamas Umklammerung lösen, lugte neugierig aus beschlagenen Käferfenstern - freute sich, wenn der warme Atem Löcher in die Scheibe bohrte .... "Lieber Gott", betete ich fromm, "hol uns ja hier raus - oder willst Du uns auf dem Gewissen haben?" Meine Zehen gaben keine Zeichen mehr. Die Nase angefroren. Ich versuchte es mit Eskimo- Küssen. Die Tochter fand das nicht so gut. Sie wollte endlich raus aus den bemutternden Armen. Ich hauchte Herzchen auf die Scheiben, malte lachende Gesichter ins Glas - herzte und scherzte, damit sie bloß meine Angst nicht spürte.

Unser Käfer war inzwischen bis zur Motorhaube eingeschneit. Ich betete schon wieder "... lass uns ja am Leben!" und versank in Schnee-Melancholie. "... so also wird es sein!" ...

Lautes Klopfen schreckte mich aus erfrorenen Gedanken. Der Herr und Gebieter - Be-Herrscher aller Naturgewalten! Er hatte es endlich geschafft. Ein riesiger- dicker- robuster- ratternder Traktor zurrte an unserem Käferchen. Wundersame Rettung! Der Liebste unversehrt- "Vater unser" - tapfer schluckte ich die Rührung hinunter ....

Wir tuckerten jetzt. Aber wieder zurück! Nach Hause an den heimelnden Herd! Vergiss den Dienst - vergiss die Pflicht! Überlebenstraining dafür kostenlos ....

Seitdem begleitete uns im Kofferraum je eine große Schaufel, ein kleiner Sandsack- und der Wille endlich meinen Führerschein zu machen. Obwohl .... So ganz allein da im Auto? Unser Kind- heute selbst Mama- weiß natürlich nichts mehr davon. Es gab ja auch keine Zeitungsnotiz: "Autofreier Sonntag forderte (fast) erstes tragisches Opfer ...."


 

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