Ein schmaler Grat zwischen Leben und Tod

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Einige Tage vor dem Nürburgring gab ich dem amerikanischen Journalist Pete Lyons ein Interview. Es erschien in "Autosport" am Montag nach dem Rennen. Lyons hatte unter anderem gefragt, ob mehr Sicherheit im Rennsport zu geringerem Zuschauerinteresse führen würde. Ich antwortete:

"Wenn das Publikum kommt, um Blut und Tod zu sehen, okay - diese Leute werden fehlen. Aber ich glaube, die Mehrheit kommt, um guten Sport zu sehen. Das bedeutet nicht Feuer, Blut und Tod, es bedeutet Kämpfen, Fahren, Driften, verschiedene Autos, verschiedene Nationalitäten, Rennen, Herausforderung, Risiko. Durch Sich-Umbringen wird der Sport nicht besser, sondern schlechter.

Wenn auf einer modernen Rennstrecke etwas an meinem Auto bricht, ein Flügel oder die Aufhängung, habe ich eine 70:30-Chance zwischen Leben und Sterben.
Am Nürburgring, wenn du einen Schaden am Auto hast, hast du 100 Prozent Chancen auf den Tod."

Trotzdem startete ich natürlich am 1. August 1976. Meine letzte Erinnerung: Ich kam zum Reifenwechsel an die Box und fuhr wieder los.


1. August 1976, Nürburgring
 
Der Ferrari folgt nicht der Linkskurve, prallt gegen die Böschung,
wird auf die Fahrbahn zurückgeworfen und fängt Feuer.
Niki, dem der Sturzhelm vom Kopf geschlagen wurde, sitzt
bewußtlos im Auto. Brett Lungers Wagen ("Campari") hat den
Ferrari gerammt. Arturo Merzario springt mitten in die Flammen
und kann den Gurt lösen, daraufhin wird Niki herausgezogen.

...

Intensivstation in Mannheim. Am vierten Tag nimmt man mir den Tubus raus, ich kann zum ersten Mal sprechen. Besucher: Marlene, die Eltern, der Bruder, alle in Grün, mit grünen Mänteln, grünen Hauberln. Ich sage: Wie schaut's denn ihr aus? Sie haben keimfreie Kleidung bekommen und eine sterile Schleuse passiert. Drinnen hat es 30 Grad. Wegen der Verbrennungen und der Infektionsgefahr bin ich innerhalb des großen Raumes der Intensivstation noch einmal in einer kleinen Kammer abgesichert. Am Donnerstag zeigt man mir einen Spiegel. Ich muß meine Augenschlitze mit den Fingern spreizen, um deutlich sehen zu können: Der Kopf ist auf das Dreifache angeschwollen, die Riesenmelone steckt direkt auf den Schultern, Hals und Nase sind überhaupt nicht zu erkennen. Da reißt's dich schon ein bisserl, wenn du das siehst ,,800 Grad", sagt die Schwester, "das macht die Hitze von 800 Grad."

Das erste ausgeprägte Erfolgserlebnis: Ich gehe herum, eine Schwester stützt mich. Die armen Hunde, denke ich beim Durchgehen, lauter schreckliche Fälle auf dieser Station. Einem ist der Wagenheber abgerutscht, dann fiel ihm das Auto auf den Kopf. Eine Schwester ist über ihn gebeugt und versucht ihm Reflexe zu entlocken. Sie schreit immer wieder: "Machen Sie die Augen auf machen Sie die Augen auf" Sie schwäbelt stark, eigentlich sagt sie: "Mache Se de Oge of, mache Se de Oge of." Aber er tut nichts.

Ziemlich rasch wurden die wichtigsten Hauttransplantationen - vom rechten Oberschenkel ins Gesicht - gemacht. Zum Glück kriegte ich keine Zeitungen. Der Aufmacher in "Bild" hieß:

"NIKI LAUDA KOMMT DURCH ...
aber wie lebt ein Mann ohne Gesicht?"

Auch die Prognose war nur mäßig erfrischend:

"Wie kann er ohne Gesicht weiterleben? So grauenhaft es klingt: Auch wenn sein Körper wieder ganz gesund ist, wird er sich ein halbes Jahr lang nicht unter Menschen trauen. Erst Anfang 1979 (also in anderthalb Jahren) wird sein neu geformtes Gesicht fertig sein. Nase, Augenlider, Lippen sind dann geformt. Nur an seiner Mimik und an seiner Sprache werden Freunde den Rennfahrer erkennen."

38 Tage nach dem Unfall meldete ich mich bei Ferrari zurück, und alle erkannten mich. Ein bißchen Melodrama bei der Ankunft in Maranello und den wartenden Fans, vor allem aber Ratlosigkeit. Sie alle, inklusive Enzo himself, wußten nichts mit mir anzufangen. Ich paßte nicht in ihr Schema. War ich krankhaft ehrgeizig? War ich pietätlos, weil ich die Menschen mit meinem Kopf schreckte? War ich schädlich für den Rennsport, weil mir mein Berufsunfall ins Gesicht geschrieben stand? Und außerdem: Welche Art von Lauda war ich jetzt? Feig geworden? Tollkühn? Übergeschnappt? Komplexbeladen, daher unberechenbar? Wie sollte man mich anschauen?

..."

Quelle: "Das Dritte Leben", Niki Lauda, Heyne Verlag, ISBN 3-453-13880-5, S. 22-24
 

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