Deutsch-deutsche Wirrnisse

20 Jahre nach der Ballonflucht: Eine Familie zieht Bilanz

von Annegret Schwegmann
Borkener Zeitung , Samstag, 6. November 1999

Vor zehn Jahren ist die Mauer gefallen. Eine Familie fügt diesem historischen Termin ein Datum hinzu: Vor 20 Jahren gelang die Ballonflucht der Strelzyks


Geschafft: Das Foto der Familie Strelzyk entstand einen Tag nach der erfolgreichen Flucht in den Westen

Vergangene Woche bin ich wieder Ballon gefahren." Peter Strelzyk unterbricht sich, schweigt wie ein guter Erzähler, der weiß, wann eine Pause den besten Effekt erzielt. "Ich bin Ballon gefahren. Doch diesmal habe ich es wegen des Sportes getan."

Den Zeitpunkt wird er nicht zufällig gewählt haben. 20 Jahre nach seiner Ballonflucht in den Westen war der sportliche Ausflug für ihn eine Art Manifest seiner Freiheit. Und die letzte Linie eines Kreises, der sich für ihn und seine Frau Doris endgültig geschlossen hat. 20 Jahre nach ihrer spektakulären Ballonflucht in den Westen sind die beiden in ihren Heimatort Pößneck zurückgezogen und renovieren das Haus, das sie im September 1979 in dem Glauben verließen, es niemals wiederzusehen.

Eine Frage ist Peter Strelzyk seitdem verlitten. Wer von ihm wissen will, ob er alles noch einmal ganz genauso machen würde, wird von ihm schroff auf das Buch verwiesen, das er vor einigen Wochen im Verlag Ullstein veröffentlicht hat. "Da steht alles drin", sagt er nur und wiederholt dann doch die Worte, mit denen seine Erinnerungen enden, und die er mittlerweile auswendig zitieren kann: "Wenn wir mit unseren Söhnen zusammensitzen, stellen wir uns manchmal die Frage, ob wir mit den Erfahrungen der letzten 20 Jahre die Flucht noch einmal wagen würden. Die Antwort heißt uneingeschränkt Ja."

Dem gelernten Kunststofftechniker ist es ernst damit. Die Angst vor der Entdeckung und die Sorgen um die Sicherheit seiner Familie waren es wert, ausgestanden zu werden. " Wir sind ja nicht in den Westen geflüchtet, weil die Margarine dort besser ist. Wir sind geflüchtet, weil wir von der Freiheit geträumt haben." Von der Möglichkeit, sich uneingeschränkt zu bewegen, die Strelzyk und seine Frau noch heute wie ein Geschenk genießen. "Jetzt, da die barbarische Grenze weg ist, können wir überall hin. Ein Sohn wohnt bei Basel, ein anderer bei Bad Kissingen. Das sind heute keine Entfernungen mehr." Ein Stück Wirklichkeit, das er lange Zeit für unerreichbar hielt.

1979 - in den vergangenen Wochen wurde er häufiger an die Turbulenzen der Flucht und ihre heimliche Vorbereitung erinnert, als ihm lieb war, Journalisten suchten ihn auf und wollten alles noch einmal hören, wollten wissen, was er gefühlt hatte, als ihm klar wurde, dass der zweite Fluchtversuch endlich erfolgreich war. Strelzyk jedoch hätte mit seinen Gästen viel lieber übe etwas gesprochen, das ihn in den vergangenen Jahren stärker als die Erinnerung an die Ballonflucht bewegt hat. "Wir haben in diesen 20 Jahren bis zum Mauerfall nicht gewusst, wie sehr wir bespitzelt und verfolgt worden sind." Als seine Frau und er endlich Einsicht in ihre Stasi-Akte erhielten, wussten sie es. Auf 25 Kilo Papier hatte der Geheimdienst der DDR alles zusammengefasst, was er über die Familie in Erfahrung bringen und noch viel mehr, wie er ihr schaden konnte. "Auf uns sind Brandanschläge verübt worden. Uns wurde sogar mit der Entführung unserer Kinder gedroht." Als noch schmerzlicher empfand Strelzyk die Erkenntnis, dass ein Mann, den er seinen Freund nannte, ein Mitarbeiter der Stasi war, dessen Auftrag darin bestand, der Familie das Leben im Westen nach Kräften zu verleiden. Ein ganzes Jahr lang, erzählt Strelzyk, habe er unter dem Schock dieser Nachrichten gestanden. "Erst als wir unser Buch beendet haben, konnten wir dieses Kapitel endgültig schließen. Dieses Buch war unsere Befreiung von einem Alptraum."

Wohl deshalb kann sich Strelzyk unbefangen an den Zeitpunkt erinnern, an dem der Gedanke an die Flucht zum ersten Mal konkret wurde: "Es muss irgendwann im März 1978 gewesen sein. In der Frühstückspause unterhalte ich mich mit meinem jüngeren Kollegen Günter Wetzel über Fluchtmöglichkeiten. Wir sind uns schnell einig, dass nur der Luftweg in Frage kommt." Wer schließlich auf den Gedanken kam, einen Heißluftballon zu bauen, war hinterher weder dem Kunststofftechniker noch seinem Arbeitskollegen, dem jungen Maurer Günter Wetzel, klar.

Beide beschließen, mit ihren Frauen zu reden, die dem Plan trotz aller Bederiken zustimmen und auch das Risiko akzeptieren, ihre Kinder den Gefahren der Flucht auszusetzen. In einem Warenhaus in Gera kaufen die Frauen 460 Quadratmeter Stoff unter dem Vorwand, Vorzelte für ihren Camping-Club nähen zu wollen. Die erste Ballonfahrt am 3. Juli 1979 misslingt jedoch. Nach 35 Minuten ist die Luftfahrt beendet. Eine hoch gewachsene Fichte zerfetzt die Baumwollhülle und lässt den Ballon hart auf den Boden fallen. Weder die Erwachsenen noch ihre vier Kinder wissen, wo sie sich befinden und verlieren allen Mut, als einer der Söhne des Ehepaars Strelzyk ein Stück Papier vom Boden aufklaubt. "Toastbrot steht darauf", erinnert sich Strelzyk. "VEB Nahrungs- und Genussmittel Wernigerode. Dieser Fund raubt uns die letzte Hoffnung. Wir sind im Sperrgebiet kurz vor dem ersten Sicherheitszaun gelandet."

Der nächste Versuch, das ist beiden Paaren klar, darf nicht mehr scheitern. Die Männer entscheiden sich für eine mit 4000 Kubikmetern größere Ballonhülle, die Frauen kaufen in Rudolstadt Nylon und in Weimar Taft und nähen erneut den Stoff, der ihnen diesmal wirklich die Freiheit bringen soll. Am 16. September landen die acht Flüchtlinge wenige Kilometer von ihrer Heimat entfernt in der oberfränkischen Stadt Naila und finden zunächst Unterkunft beim bayerischen Roten Kreuz und durch Hilfe des Bürgermeisters wenige Wochen später Arbeit und eigene Wohnungen.

Die nächsten Wochen empfinden die DDR-Flüchtlinge wie einen Film, in dem ihnen zufällig die Hauptrollen zuerkannt worden sind. "Die langwierigen Vorarbeiten. die wochenlange Anspannung - und nun sollen wir nach wenig mehr als einer halben Stunde Luftfahrt fast mühelos das erträumte Ziel erreicht haben?" So recht einleuchten will niemandem, dass ihr Traum wahr geworden ist. Als kurz darauf eine amerikanische Gesellschaft Leben und Flucht der beiden Familien verfilmen will, fühlen sich die vier Erwachsenen tatsächlich in ein Wunderland versezt. Doch der Traum wird rissig. Doris und Peter Strelzyk eröffnen in Bad Kissingen ein Elektrogeschäft, das schon bald Verluste schreibt. Erst später wird dem Ehepaar klar, dass ihr Geschäftsführer einen Pakt mit dem Geheimdienst der DDR geschlossen hat und durch Drohanrufe und Brandanschläge für den Ruin des Geschäftes sorgt. In ihren Existenzsorgen verlieren die beiden den Kontakt zu ihren Fluchtpartnern, die sie anfänglich noch gelegentlich gesehen haben.

Heute empfindet Strelzyk diese Zeit jedoch nicht mehr wie einen bösen Fluch. "Im Nachhinein", schreibt er in seinem Buch, "erscheint das Treiben der Stasi lächerlich. So viele Berichte, so viele Spitzel - und so wenige Ergebnisse. Selbst die Anschläge konnten uns nicht viel anhaben."

Das Buch von Doris und Peter Strelzyk ist unter dem Titel "Schicksal Ballonflucht - Der lange Arm der Stasi" im Ullstein-Verlag erschienen.

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