Kritische Bemerkungen zu der Rolle der Medien von der Nachrichtenagentur AFP - vom WDR zur Verfügung gestellt.
Meldung: 0002/0002 AFP 12.08.1998 13:56 D/Gladbeck/KORR
Das Tete-a-Tete von Reporter und Gangster soll es nicht mehr geben
-Bei Gladbecker Geiseldrama wurden Tabus reihenweise gebrochen
-Medien gelobten seitdem Besserung
Von Jürgen Oeder
Bonn, 12. August (AFP) - Die Bilder haben sich tief in das Gedächtnis vieler Menschen eingeprägt: Das angstverzerrte Gesicht der Geisel, der fordernde und triumphierende Blick des Gangsters, der mit der Pistole am Kopf seines Opfers in die Mikrofone spricht. Das Geiseldrama von Gladbeck vor zehn Jahren hielt die Republik in Atem vor allem wegen der breiten Präsentation durch die Medien, die dabei allerdings nicht nur als Beobachter, sondern auch als Akteure des Geschehens auftraten. Journalisten boten den Gangstern. das Instrumentarium, ihre Forderungen zu verbreiten. Journalisten behinderten zugleich die Arbeit der Polizei. Beim Geiseldrama von Gladbeck wurden journalistische Tabus gleich reihenweise gebrochen -und eine Debatte über ethische Maßstäbe für die Medien ausgelöst, die bis heute anhält.
"Ein Journalist warnte die beiden Geiselgangster von Gladbeck sogar durch Zuruf, daß die Polizei die Innenstadt abgeriegelt hatte", erinnert sich Verena Hruska, Ethik-Lehrerin an der Deutschen Journalisten-Schule in München. Die 54stündige Irrfahrt der Bankräuber Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, bei der drei Menschen getötet wurden, war zu einem nie zuvor dagewesenen Medienespektakel ausgeartet. Auf der Jagd nach Interviews und Bildern warfen etliche Journalisten alle ethischen Grundsätze über Bord. Chronisten seien zu "Werkzeugen von Verbrechern" geworden, sagt Franziska Hundseder, Sprecherin der Journalisten in der IG Medien.
Der Deutsche Presserat, Selbstkontrollorgan der Printmedien, hat die Verfehlungen dokumentiert: Am 17. August stürmten in Bremen Reporter an Polizisten vorbei in den Linienbus, in dem die Gangster 30 Fahrgäste festhielten. Die Täter gaben Interviews. Nachts, als der Bus auf der Autobahn Richtung Holland fuhr, drängte sich sich ein Pulk von rund 20 Journalistenautos zwischen Gangster und Polizei und verhinderte damit jede Zugriffschance des Einsatzkommandos. An einer Raststätte gaben die Gangster erneut Interviews. Am Tag darauf setzte sich der damalige stellvertretende Chefredakteur des Kölner "Express" und heutige "Bild"-Chefredakteur Udo Röbel zu den Kidnappern ins Auto und wies den Ortsunkundigen für ein Interview den Weg aus der von der Polizei umstellten Kölner Innenstadt.
Die Medien haben seit Gladbeck Besserung gelobt. Die unheilvolle Liaison von Gangstern und Reportern soll sich nicht wiederholen. Dennoch fürchtet Hundseder, daß ähnliche Exzesse erneut auftreten könnten, nämlich wenn "Einschaltquote und verkaufte Auflage zum Kriterium für guten oder schlechten Journalismus werden". Presseratssprecher Lutz Tillmans indes meint, die Medien hätten aus Gladbeck gelernt: "Sie kontrollieren sich heute gegenseitig." Die massive Kritik am Verhalten der Medien und die wegen Gladbeck geänderten Presseratsrichtlinien seien auf fruchtbaren Boden gefallen. Tillmans verweist darauf, daß es bei späteren Geiselnahmen wie der von Fulda ähnliche Eklats nicht mehr gab.
Im November 1994 hatten zwei aus einem Hamburger Gefängnis ausgebrochenene Gangster bei Fulda eine Bank überfallen und mehrere Geiseln genommen. Die Verbrecher konnten erst nach einer 30stündigen Flucht und über tausend Kilometer langen Fahrt durch sechs Bundesländer überwältigt werden. Im Gegensatz zu Gladbeck gab es beim Fuldaer Geiseldrama aber "nur zwei bis drei negative Vorfälle" mit Journalisten, wie damals das sächsische Landespolizeipräsidium bestätigte. Einer betraf "Bild". Das Boulevardblatt wurde vom Presserat gerügt, weil es per Funktelefon ein Interview mit einem Gangster geführt und veröffentlicht hatte. "Bild" hatte damit gegen die neuen Richtlinien des Presserats verstoßen, wonach es Interviews mit Tätern während der Tat nicht geben darf.
Auch Rruska glaubt, daß die journalistische Selbstkontrolle trotz solcher Einzelfälle funktioniert: Überregionale Tageszeitungen schrieben heute sehr kritisch über den Stil der Berichterstattung in der Boulevardpresse, führt sie als Beispiel an. Tillmanns verweist darauf, daß existierende Fotos von der sterbenden Prinzessin Diana wegen der greifenden Selbstkontrolle nicht veröffentlicht würden. Die Experten sind sich allerdings einig, daß an Journalistenschulen noch mehr Ethik gelehrt werden muß: "Sonst züchtet man Hasardeure, denen unter Erfolgszwang jedes Mittel Recht ist", sagt Rundseder.
jo/dja
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