Günter Schabowski

"Das Politbüro"
Ende eines Mythos
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999
980 - ISBN 3 499 12888 8

Günter Schabowski beschreibt die Vorgeschichte und den Ablauf der berühmt gewordenen Pressekonferenz, auf der er die Reisefreiheit für die DDR-Bürger verkündet. (S. 137-140)

 

Der wichtigste Punkt war doch die Frage des Reisegesetzes?

Das war tatsächlich ganz wichtig, weil dieses Gesetz das ganze Volk betraf. Ein oder zwei Tage bevor am 6. November das Reisegesetz veröffentlicht wurde, hatte ich eine eigentlich zufällige Begegnung mit Gysi in meinem Büro. Ich hörte, er sei irgendwo im Zentralkomitee, ich bat ihn zu mir, weil ich mit ihm klären wollte, wie es möglich sei, mit Bärbel Bohley in Kontakt zu treten. Als Gysi zu mir kam, war mir kurz zuvor der Entwurf des Reisegesetzes der Regierung hereingereicht worden. Das war eine Politbürovorlage. Das Reisegesetz war die erste greifbare Handlung für die Menschen, die diese Führung angeschoben hatte. Bei aller Konzeptionslosigkeit waren wir uns einig, daß in dieser Frage schnell etwas geschehen mußte. Nun muß ich gestehen, daß ich nicht so ein Experte war, um genau zu durchschauen, ob die Intention, die wir hatten, durch diesen Entwurf gewährleistet war. Wenn der Advokat schon da ist, sollte man diese Gelegenheit nutzen, dachte ich. Ich gab Gysi den Entwurf und fragte ihn, ob die Sache nun so hinkäme, wie wir uns das vorstellten. Gysi guckte die Vorlage kurz an und sagte schon nach ein paar Minuten sinngemäß, die Sache habe folgenden Haken: Wenn ihr den Leuten Pässe gebt, reicht das als Ausreisegenehmigung aus. Wir brauchen kein Ausreisevisum, wie im Gesetzentwurf vorgesehen. Wenn die Leute einen Paß haben, laßt sie ausreisen. Wenn der Paß entzogen ist, zum Beispiel aus strafrechtlichen Gründen, ist man ohnehin nicht reisepotent. Die Einreise in das betreffende Land ist ein Punkt, den andere zu entscheiden haben, nämlich die jeweiligen Länder. Damit hat die DDR dann nichts mehr zu tun. Das leuchtete ein. Ich rief Krenz an und erzählte ihm, daß ich gerade erlebt hätte, wie Gysi quasi mit einem Blick auf eine Schwäche dieses Reisegesetzes hingewiesen habe. Ich sagte ihm noch etwas scherzhaft, daß ich ihm Gysi als Rechtsbeistand empfehlen könne.

Trotz der festgestellten Unzulänglichkeiten wurde die Veröffentlichung des Entwurfes dann doch nicht mehr aufgeschoben, weil wir davon ausgingen, daß er ja ohnehin noch vier Wochen diskutiert werden sollte. Wir wollten schnell mit einer Geste herauskommen. «Laßt doch die Leute darüber diskutieren.» Also wurde der Entwurf des Reisegesetzes, der einen Auslandsaufenthalt von 30 Tagen pro Jahr nach einem Genehmigungsverfahren vorsah, bis Ende November öffentlich zur Diskussion gestellt. Das Resultat war, daß es nach der Veröffentlichung dieses Gesetzes allenthalben zu Protesten kam. Das DDR-Fernsehen sendete kritische Stellungnahmen von DDR-Bürgern zu diesem Entwurf, und am nächsten Tag wurde er vom Rechtsausschuß der DDR-Volkskammer als unzureichend abgelehnt. Dabei spielte auch die Finanzierung von Reisen eine Rolle. Die Bürger hätten bei ihrer Reise mit 15 DM in der Tasche gerade mal die Grenze überschreiten können. Diese Tatsache und die verklausulierten Einspruchsmöglichkeiten, die kafkaeske Situation, daß irgendein höherer Ministerieller die Ausreise verweigern konnte, waren nicht aus der Welt geschaffen. Wir hörten zum erstenmal, daß es daraufhin Streikdrohungen gab. Das ist natürlich für einen Kommunisten das Unakzeptabelste, was es geben kann. Es war vor allem peinlich, weil das, was wir unternommen hatten, ja dazu dienen sollte, mit dem Volk Übereinstimmung herbeizuführen. Zum anderen kamen - das ist das zweite Moment - aus Prag Hinweise, daß sich die Botschaft schon wieder fülle und die CSSR sich außerstande sähe, eine solche Entwicklung erneut zu tragen. Deshalb werde von tschechischer Seite erwogen, die Grenze zu schließen bzw. wurden wir aufgefordert, unsererseits die Grenzen zu schließen. Das war natürlich ein enormer Druck. Es war alles so widersinnig, weil unsere Absicht doch gerade darin bestand, Reisemöglichkeiten ohne jede Einschränkung zuzulassen. Nun hatten wir mit unserer guten Absicht eine so unerfreuliche Abfuhr erfahren, daß die Notwendigkeit immer deutlicher wurde, diese Absicht unverzüglich und eindeutig zu belegen.

Ich war über unsere eigene Unbedarftheit verärgert. Ich erinnerte mich natürlich an die Bemerkungen von Gysi und warf mir selbst vor, daß ich nicht stärker darauf gedrungen hatte, das Gesetz zu ändern. Wir hätten den Text genauso gut zwei Tage später herausbringen können. Wir waren doch souverän, was den Zeitpunkt der Veröffentlichung anbelangte. Nun blieb nichts anderes übrig, als durch einen neuerlichen Auftrag an die Regierung eine Regelung zu treffen, die sofort in Kraft zu setzen wäre, gleichsam als Vorgriff auf das finale Gesetzeswerk, das im Dezember zur Verabschiedung durch die Volkskammer vorgesehen war. Meine Vorstellung war, daß sofort ein Ausreisen, ein Verlassen der DDR möglich sein müßte, direkt über die Grenze der DDR und nicht nur über diesen irrsinnigen Umweg via Prag. Gleichzeitig mußte das verbunden sein mit der Möglichkeit für jeden Bürger zu reisen. Sonst hätte dieser Vorgriff überhaupt keinen Sinn gehabt. Es wurde dann kurzfristig gehandelt. Am ersten Tag der 10. ZK-Tagung, am 8. November, also nur zwei Tage nach der ersten Veröffentlichung, lag dieser von der Regierung verabschiedete Entwurf für den Vorgriff bereits vor. Krenz erhielt ihn während der ZK-Tagung. Er hat die Regelung sofort dem ZK zur Abstimmung unterbreitet.

Zu dieser Zeit war ich nicht im Zentralkomitee. Ich mußte die Beratung ab und zu verlassen, um mit Journalisten zu sprechen. In der Zeit trug Krenz die Sache vor. Nach Meinung von Teilnehmern, mit denen ich hinterher gesprochen habe, hat er die Vorlage mehr beiläufig vorgetragen. Vielleicht glaubte er, daß viele in diesem Zentralkomitee alter Prägung sagen würden: «Was, jetzt machen die die Grenze auf? Das geht doch nicht.»

Als ich wieder in den Sitzungssaal kam, war es schon Zeit für die Pressekonferenz. Ich ging zu Krenz, um mich zu verabschieden. Er drückte mir das Regierungspapier über den Reisevorgriff in die Hand und meinte, das könnte ein Knüller werden.

Auf der Pressekonferenz haben wir zunächst über den Verlauf der ZK-Beratung berichtet. Wir, dazu gehörten noch einige andere, um deren Mitwirkung ich gebeten hatte. Ich wollte keine Solonummer, sondern wollte, daß dort auch Mitglieder des Zentralkomitees vertreten sind, um dieses Gremium aufzuwerten. Nach Abschluß der Information über die Tagung habe ich mitgeteilt, daß auf Veranlassung des Politbüros die Regierung einen Vorgriff auf das Reisegesetz entworfen habe. Ich hatte mir ein paar Notizen über die ZK-Tagung gemacht, die ich unbedingt berühren wollte. Zuunterst hatte ich die Vorlage plaziert, die im Ministerrat behandelt worden war. Während der Pressekonferenz geriet die Erklärung zwischen die Notizen. Als ich sie dann vorlesen wollte, blätterte ich nochmals durch, es kam jemand zu mir, begann mit mir zusammen zu suchen und zog das Papier hervor. So entstand der Eindruck, als hätte man mir erst in dieser Situation einen Zettel zugesteckt. Das hängt vielleicht mit der Verblüffung zusammen, die die Journalisten empfanden, als sie den sensationellen Inhalt erfuhren. Auch mein flinkes Verlesen schien ihnen so merkwürdig, daß sie glaubten, ich hätte in diesem Augenblick erst von dem Sachverhalt erfahren. Doch das stimmte nicht. Ich habe diese Formulierung in schnellem Tempo vorgelesen, weil ich vor der Öffentlichkeit nicht auch noch betonen wollte, daß die DDR auf dem letzten Loch pfeift.

Sie haben beim Verlesen der Nachricht einmal kurz gestockt. Sind Sie sich da der Wirkung der Erklärung bewußt geworden?

Ich konnte mir natürlich nicht vorstellen, daß am Abend und in der Nacht der Run auf die Mauer losgehen würde. Dazu reichte meine Phantasie nicht aus. Es gab eigentlich zwei Momente, die mit Stockungen verbunden waren. Das erste betraf mich selbst, daß ich beim Lesen des Wortes Westberlin innerlich etwas zögerte, weil mir in diesem Augenblick durch den Kopf ging, ob überhaupt eine Abstimmung mit der Sowjetunion erfolgt sei. Schließlich waren das Fragen, die das Vier-Mächte-Abkommen betrafen. Wir haben immer mit großer Korrektheit darauf geachtet, daß von unserer Seite in bezug auf die Grenze zu Westberlin keine Eigenwilligkeiten entstehen. Das zweite Zögern betraf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung. Auf eine entsprechende Frage hin sah ich noch einmal auf das Papier, und da stand: ab sofort. Und das war der Punkt, von dem Krenz in seinem Buch schreibt, da sei ein kleiner Irrtum mit einer großen Wirkung passiert. Das trifft so nicht zu. Krenz selber hatte mir das Papier übergeben, ohne ein Wort über eine Sperrfrist zu verlieren. Es wäre ja auch eine Absurdität in sich gewesen, daß er mir zur Mitteilung an die Weltpresse Informationen gibt und von mir erwartet, daß ich bei Verkündung eine Sperrfrist für dieses Papier verhänge. «Ich bitte Sie, diese Meldung bis morgen früh um 4 Uhr zurückzuhalten.» Das wäre wirklich ein Novum in der internationalen Pressegeschichte gewesen. In dem Augenblick, in dem ich sie verlas, war die Nachricht geboren und verbreitete sich. Niemand konnte die Kugel mehr zurückholen, die in diesem Augenblick den Lauf verlassen hatte.

Die Sache bekam dadurch einen dramatischen Akzent, weil in Berlin sofort Tausende von Menschen an der Grenze sein konnten. In der Republik liegen die Städte weiter weg von der Grenze. Die Berliner haben die Mitteilung ungläubig gehört und sich dann entschlossen, mal gucken zu gehen, ob das auch wirklich stimmt.

Jedenfalls ging der Run auf die Mauer dann los, und es stellte sich heraus, wie sehr wir das Bedürfnis der Menschen unterschätzt hatten. Ich hatte nicht mit dieser Wirkung gerechnet. Am späten Abend wurde ich angerufen und davon informiert, daß sich Tausende von Menschen an den Grenzübergängen einfänden. Daraufhin habe ich mich kurzerhand ins Auto gesetzt und bin nach Berlin gefahren, während Wandlitz schlief. In Berlin kam ich zur Wollandstraße und sah, wie die Autokolonne die Schönhauser-Allee überquerte. Dann bin ich zur Heinrich-Heine-Straße gefahren und sah, daß auch dort Tausende von Menschen standen. Ich fragte einen Grenzbevollmächtigten, wie sich der Ablauf gestalte. Ich hatte ja die absonderlichsten Vorstellungen. Ich dachte, die setzen mit 'ner Flanke über die Mauer, die DDR läuft aus. Doch der Grenzer sagte: «Nein, es läuft alles hervorragend. Die Menschen sind in phantastischer Stimmung, und was beruhigend ist, sie weisen ihren Personalausweis vor.» Als ich das mit dem Personalausweis hörte, war ich der Meinung, die DDR sei gerettet: Obwohl die Bürger sich frei bewegen können, fegen sie diese Grenze nicht weg, sondern respektieren sie. Daraufhin wurden Sonderstellen an die Grenze verlagert, so daß man sich nicht nur bei den Kreisvolkspolizeiämtern den Stempel holen konnte, um rüberzugehen.

Am nächsten Tag war Katerstimmung im ZK. Irgendwann beim Frühstück kam das Gespräch auf die Maueröffnung. Und da gab es dann Reaktionen von Krenz und von Mielke wie: «Wie konnte das bloß zustande kommen?» Bis hin zu der Bemerkung: «Wer hat uns das eingebrockt?» Ich hörte mir das an und dachte: «Na, dann holt euch man die Antwort auf eure rhetorischen Fragen.» Es herrschte Verblüffung, und es wurde gerätselt. Das war natürlich grotesk, dann selbst die Grenzer wußten Bescheid, daß morgens etwas passieren sollte. Aber es hatte natürlich keiner am Abend mit einem solchen Ansturm gerechnet.

Die Maueröffnung war die einzige Maßnahme, die uns für kurze Zeit den nahezu ungeteilten Beifall der Mehrheit der Bevölkerung einbrachte. Manche Genossen waren damit allerdings nicht einverstanden. Sie fühlten sich düpiert, weil sie so lange diese Grenze und die Mauer verteidigen oder rechtfertigen mußten.

Tatsache aber ist, daß es uns einen Zugewinn an Renommee brachte. Krenz bedauert noch heute, daß wir uns nicht mit Momper am Potsdamer Platz getroffen haben, wie das der Oberbürgermeister von Ostberlin, Krack, gemacht hat. Krack hatte das vorher mit mir besprochen, und ich habe ihm zugeraten.

Die Menschen waren glücklich. Die verfluchte Einschränkung war weg. Damit war es uns zum erstenmal möglich, Tuchfühlung mit ihren Erwartungen aufzunehmen. Alles andere war ja weitaus komplizierter, die Wirtschaftsreform zum Beispiel. Diese Dinge hätten nicht so schlagartig gegriffen. Wir hätten uns selbst an die Kandare nehmen und frühzeitig in solche Richtungen weisen müssen, bis hin zur Akzeptanz politischer Pluralität. Daß mit der Maueröffnung das Ende der Republik seinen Anfang genommen hatte, ahnten wir nicht. Im Gegenteil, wir hatten einen Stabilisierungsprozeß erwartet, der sich zunächst ja auch einstellte. Endlich sind sie wie Bürger anderer zivilisierter Staaten in der Lage, dem Reise-Bedürfnis zu frönen. Die Menschen gingen rüber und kamen wieder zurück.

Es hat zwar Auswirkungen auf die Arbeitssituation gegeben. Einige von uns sind auch sofort nervös geworden und taten so, als sei plötzlich ein Chaos entstanden - angeblich sollen zeitweilig 20 Prozent der Arbeiter in den Betrieben gefehlt haben. In solchen Fällen muß man einfach die Nerven behalten. Nach knapp einer Woche hatte sich die Sache ohnehin wieder eingeschaukelt.

Doch das Gesamt-Konzept ging nicht auf, konnte nicht aufgehen, weil die Öffnung nicht flankiert war von anderen substantiellen Änderungen des sozialistischen Systems. Wiederum zeigten sich unsere prinzipiellen und strategischen Defizite. Aber gab es überhaupt strategische Lösungen für die Unzulänglichkeiten des Systems? Ich bin sicher, wir hätten - vielleicht erst etwas später - festgestellt, daß das System nicht reformierbar ist.
 

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