Walter Momper beschreibt aus seiner Sicht einen der entscheidenden Momente nach der Ankündigung der Reisefreiheit durch Günter Schabowski, als sich viele Menschen aus Ostberlin den Weg in den Westen ertrotzen.
... Auf dem nächsten Zettel stand: "Bornholmer Straße nach Erkenntnissen des Lagedienstes zur Zeit ohne Grenzposten. Ausreise von DDR-Bürgern geht bereits in die Tausende." Ich zeigte diesen Zettel Steffi Spira und Norbert Meisner und flüsterte ihnen zu: "Wenn ich das hier jetzt laut vorlese, ist in ganz Berlin die Hölle los." Wir verständigten uns: "Warten wir ab, bis die SFB-Reporter im Westen die ersten DDRler vor der Kamera haben." Der SFB-Journalist Robin Lautenbach wurde kurz nach dreiundzwanzig Uhr aus der Invalidenstraße direkt zugeschaltet. Er sprach mit einigen Ostberlinern, die soeben ohne Kontrolle die Grenze passiert hatten. Jetzt war es soweit.
Ich bat nach dieser Einblendung um das Wort und sagte: "Um es allen Berlinern klar zu sagen: Überall sind die Übergänge offen, es wird nicht mehr kontrolliert, man kann ungehindert durch die Mauer. Ich bitte um Verständnis, aber mein Platz ist jetzt woanders." Ich stand auf und verließ die Livesendung vor laufender Kamera.
Später habe ich einen Videofilm von dem entscheidenden Durchbruch in der Bornholmer Straße gesehen - eine historische Szene: Die Menge dort ist konstant angewachsen. Der Druck auf die Absperrung wird immer größer. Die Leute beschimpfen einen dicken Hauptmann der Grenztruppen und halten ihre Ausweise hoch. "Wir kommen wieder, wir kommen wieder", rufen sie. Die Menge ist entschlossen, die Grenzer sind ratlos. Wenn einer mit den bis dahin vorgeschriebenen Papieren kommt und durchgelassen werden muß, drängen andere sofort nach. Das Tor ist nur noch mühsam dicht zu halten. Die Lage wird immer brenzliger. Schließlich geht der Hauptmann zu einem jungen Soldaten am Tor und gibt ihm das Zeichen, das Tor zu öffnen. Jubelnd rennen die Menschen durch die Absperrung nach Westen. Der Hauptmann steht neben dem geöffneten Schlagbaum, starrt fassungslos den rennenden Menschen nach, und dann macht er die Bewegung, die ich nie vergessen werde: Ein kurzes hilfloses Achselzucken und ein kraftloses, resigniertes Fallenlassen der Arme, aus Grenzer, aus Mauerstaat. ...
Quelle: "Grenzfall. Berlin im Brennpunkt deutscher Geschichte" (Bertelsmann Verlag, München 1991) S. 143
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