(29) Flucht und Vertreibung

Meine Mutter kannte bis zum 24.Januar 1945 keinen Krieg. Sie stammt aus Marienburg in Westpreußen. Bis zu dem besagten 24.Januar war der Krieg für sie nicht zu spüren. Sie kannte keine Bombenangriffe, keinen Fliegeralarm und keine Not. Aber am 24.Januar 1945 sollte sich dieses sehr schnell ändern. Der Russe war einmarschiert. Meine Mutter erzählte:

Wir waren seit einigen Tagen jede Nacht vollständig angezogen, mit Mantel und Schuhen ins Bett gegangen. Unser Handgepäck stand jede Nacht bereit. Der Grund hierfür war, dass wir das Donnern der Front immer näher hörten. Meine Mutter versuchte, alle Angst von uns Kindern fern zu halten. Auf unsere Frage, warum wir jetzt immer angezogen ins Bett gehen müssten, antwortete sie: "Es könnte sein, dass wir unsere Heimat bald verlassen müssen."

Am 24.Januar in der Frühe um 3.00 Uhr war es so weit. Da begannen für mich und meine Familie und für viele Menschen aus dem Osten die Flucht und Vertreibung. Wir flüchteten und wussten nicht wohin. Wir kannten bis dahin keinen Brand. Nun aber, in einer einzigen Nacht, brannte es vor uns, hinter uns und neben uns. Es brannte jedes Haus. Nun wussten wir, was das Wort 'Krieg' bedeutete. Aber es sollte noch viel schlimmer kommen. Kaum acht Tage auf der Flucht, verloren wir unseren Großvater. Wir warteten drei Tage auf ihn, suchten nach ihm und befragten vorbeiziehende Flüchtlinge. Aber wir hörten nie wieder etwas von ihm. Er war wohl, wie viele Menschen in dieser Zeit, am Straßenrand gestorben. Nach weiteren zwei Tagen trat das schrecklichste Ereignis für uns ein. Russen trieben sämtliche Frauen zusammen, darunter auch meine Mutter, und verschleppten sie. Wir haben zwei Tage und Nächte in einem Waldstück auf die verschleppten Menschen gewartet. Aber sie kamen nicht. Der Krieg war bald zu Ende, meine Mutter war immer noch nicht da. Wir wussten nicht, ob sie noch lebte oder ob sie schon tot war. 1949 erst bekamen wir die freudige Nachricht über das Deutsche Rote Kreuz, dass unsere Mutter, die von den Russen nach Sibirien verschleppt worden war, mit einem Heimkehrertransport in Lübeck eingetroffen war. Dennoch mussten wir sehr lange warten, bis wir sie wieder sahen. Lübeck war Westdeutschland. Wir aber wohnten wieder in unserem Heimatdorf, welches polnisch geworden war.
(Thomas Qualizza)